Seit dem letzten Beitrag über die Geontologie von Elisabeth von Povinelli habe ich nichts mehr geschrieben.
Teilweise liegt dies an der intensiven Befassung mit meinem Buchprojekt über die Kontingenz der Ordnung, anhand einer Reise über Entropie, die Zeit, die vergeht ohne wiederzukehren, und die Unordnung verursacht oder die Unvollständigkeit des Wissens offenbart. Tatsächlich ist dies eine Gelegenheit, das Blogprojekt zu unterbrechen. Es war mehr als eine Pause, es war eine Atempause. Zu welchem Zweck? Über den Sinn des philosophischen Schreibens nachzudenken. Warum? Weil im Kontext der Akademie und der Wissenschaftsproduktion, wenn Wissenschaft immer positiver gedacht und praktiziert wird, immer wieder die Frage gestellt wird, ob es überhaupt noch einen Rahmen für philosophisches Denken geben wird. Ich will nicht dem Ende des Denkens das Wort reden, aber der Drang und der Durst danach werden leicht durch die positivistische Wissenschaft, durch den metaphysischen Dogmatismus erstickt. Denken, wozu? Es klingt, als sei das Denken viel zu anstrengend, auch für die WissenschaftlerInnen, sodass sie lieber die Maschinen es berechnen lassen. Außerdem sei die Muse des Denkens so nutzlos, dass man heute keine Zeit mehr habe, sich ihr zu widmen. Ich nehme an, dass es viel Theorie gibt, auch angewandte Philosophie. Aber die spekulativen Denkrichtungen sind Wege, die von den akademischen wissenschaftlichen Forschungsrichtungen immer ausgeschlossen werden, weil sie nicht in der Lage sind, die positive Kraft der Wissenschaft zu erfüllen. Außerhalb des Verständigungsrahmens des etablierten Wissens zu denken und über das Unbekannte zu sprechen, dieses Paradoxon, in dem sich die Philosophie immer bewegt hat, ist heute die Kunst.
Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, an dem dieser Blog begann. Für den ersten Eintrag habe ich einen paraphysischen Text geschrieben. Er sollte den Blog einweihen und man sollte wissen, worum es geht. Ich wollte keine Erklärung geben, sondern es den Augen der Leserinnen und Leser überlassen. Die aus Wörtern zusammengesetzte Gedankencollage diente freilich einem konkreten Versuch: die Züge loser Stücke wiederzufinden, also scheinbar Verpasstes, Verlorenes, Vergangenes, Unwiederbringliches wiederzugewinnen.
SUB-ENSEMBLE: PHILOSOPHICAL COURAGE
Eines Tages fragte die Dame von Amboto, einer Göttin, die auf einem Berg im Nordwesten der iberischen Halbinsel lebte und Mari hieß, wo ihre Gefährtinnen seien. Die Ortsangabe ist nicht so wichtig wie ihr Vorhaben: Sie begaben sich auf die Suche nach dem Nichts (ezaren bila). Die Gefährtinnen der Göttin Mari gingen auf die Suche nach dem Nichts, nach dem, was einem genommen worden war.
Ein Hirte sollte 100 Schafe haben, von denen er eines Tages nur noch 90 hatte. Die Gefährtinnen machten sich auf die Suche nach den fehlenden 10 Schafen. Sucherinnen des Verlorenen, Siegerinnen des Verstoßenen, Bejaherinnen der Einheit sind die Gefährtinnen Maris. Wir haben sie benutzt, um den Überbleibseln jenes Umbruchs eine Stimme zu geben, all denen, die auf dem Weg verloren gegangen sind, die zurückgewiesen, ignoriert oder nicht gehört wurden.
Verstümmelte Stücke, lose Teile, verlorene Partikel, wo sind die fehlenden 10 Schafe?
Brocken sind zerbrochene Stücke. Lose Teile zeugen von einem verlorenen Zusammenhang. Zeichen eines abwesenden Objekts, jeder lose Brocken zeugt von einem Bruch. Er ist ein Rest, kein Gegenstand. In den rohen Stücken, den Partikeln eines zerbrochenen Zusammenhangs, lässt sich etwas Unvollständiges erkennen. Bruchstücke wollen nicht die Wahrheit sagen. Sie bleiben stumm in ihrer Unvollkommenheit, Teil einer verlorenen Geschichte und Zeuge einer Verneinung. Ein Brocken ist, wie jedes zerbrochene Stück, ein Zeichen dieses Bruchs. Abbrüche und Brüche sind Zeichen eines verlorenen Zusammenhangs. Wenn der Gegenstand des Zeichens abwesend ist, kommen die Gefährtinnen, um ihn zu jagen. Nur dann kann man den abwesenden Objekten auf die Spur kommen.
Dieser Blog wird jedem Brocken, der für sich und bei dir steht, seine Stimme geben. Wir wollen die Ohren öffnen und uns auf die Resonanz unselbstständiger Zeichen, unvollendeter Denkmuster einlassen. Wir wollen nicht mehr sehen, wir vertrauen der Unmittelbarkeit sinnlicher Gewissheit. Diese ist ein Raum der paroles, wo das Herz die Stimme nachholt und sie im Vordergrund des Schreibers steht. Logo-Dilexie, Logo-Aphasie; eine Disruption der Wahrnehmung in der Sprache. Das Nichts-Sagen-Können wird hier durch Alles-Wahrnehmen-Können ersetzt. Ein Behälter von Brocken jeder Art. Von einem Podcast über ein Bild bis zu einer Zeile. Interviews, Essays, Kommentare, Bild-Kommentare, Ereignis-Kommentare, Kommentare über Kommentare, Text von Texten, Stimme von Stimmen. Apokryphen, vergessene Stimmen, verbrannte Körper; ein Schlachtruf gegen das Schweigen, gegen die Verschämtheit.
Sub- ist noch kein Teil, es ist ein Anschlussteil
Ein unselbstständiges Stück, da ihm ohne Anschlüsse an Worte keine Bedeutung beigemessen wird. Ein selbstständiger Brocken als ein in sich vor dem folgenden Wort mehrdeutiger Trägerpotenzieller Bedeutungen. Eine Ode an die Autonomie und dafür, voneinander unabhängig zu bleiben. Sub- befindet sich im Regime der Möglichkeiten der Potenz.(Sub)Ensemble: Kreislauf von Anschlüssen und Bindungen. Jedes Stück istnotwendigerweise angeschlossen; jedes bleibt aber unabhängig von den anderen. DieStücke werden nicht im Prozess der rekursiven Kausalität dem Ganzen unterworfen,sie bleiben unabhängig voneinander.Sub- steht für eine Tiefe. Eine Tiefe in der Dimension einer Struktur. Sub- ist demBlick des Beobachters entzogen. Die Tiefe ist unsichtbar, man nennt diese Sub-, mansieht sie aber nicht.
Keine Extraktion! Ist das epistemische Lemma.
Sub- bleiben voneinander unabhängig, aneinander angebunden; sub-irdisch, sub-bewusst; sub-somatisch.
Der Blog war und ist ein Sammelbecken für Buchbesprechungen, Kommentare, Interviews etc. Aber der ursprüngliche Anspruch bleibt, Spuren zu lesen, Spuren von Geschichten, die nicht verloren gegangen sind, wieder aufzuschreiben. Das Verleugnete, das Geraubte, das Fehlende, das Verlorene, das nicht Wiederkehrende sind nicht verschwunden. Es kehrt zurück in der Differenz der Differenz. In anderer Form, in anderer Gestalt, in anderer Erscheinung, wiederkehrend. Es geht hier nicht um den Widerstand gegen den Verlust. Es geht vielmehr darum, die Erwiderung jenes Verlusts in Anspruch zu nehmen.