Arantzazu Saratxaga Arregi

Autor: arregi-wp

  • JACOB TAUBE’S REDE VON DER ESCHATOLOGIE IN REVISION

    JACOB TAUBE’S REDE VON DER ESCHATOLOGIE IN REVISION

    https://www.lit-verlag.de/isbn/978-3-643-15100-1

    Julian Kiefer, Christian Loos (Hg.) Geschichtsphilosophie und Eschatologie. Perspektiven nach Jacob Taubes.
    LIT Verlag

  • LIEBE: WENN EINE UNMÖGLICHKEIT WAHRSCHEINLICH WIRD.

    LIEBE: WENN EINE UNMÖGLICHKEIT WAHRSCHEINLICH WIRD.

    MAHRTENEHE.
    Königshausen & Neuman.
    Christa A. Tuczay/Thomas Ballhausen (Hg):
    (Coming soon!)

  • EIN REQUIEM AUF DEN SPÄTLIBERALISMUS, wenn man denn eine Trauerfeier würdigen will.

    EIN REQUIEM AUF DEN SPÄTLIBERALISMUS, wenn man denn eine Trauerfeier würdigen will.

    Beim Lesen des fast 320 Seiten dicken Buchs „Geontologien: Ein Requiem auf den Spätliberalismus“ freut man sich über ausführliche Gedanken zur Ontologie der Erde. Man freut sich über eine Seinsgeschichte der Erde, denn diese wurde zugunsten der Rechtsordnung des Himmelsgottes Zeus herabgewürdigt. Man erfreut sich an der Geschichte der Erde, deren Töne nicht im Widerhall des Himmels nachklingen (die Erde tönt, gestimmt in das „Echo des Himmels“). Man freut sich über das Anhören ihrer Geschichte, geschrieben nach ihren Gesetzen, welchen sie untersteht, von denen der Puls Persephones sowie die in die Unterwelt Nachgeschickten zeugen, die aus dem Reich des Himmels ins Herz der Erde vertrieben wurden.

    Die amerikanische Anthropologin Elizabeth Povinelli erzählt in ihrem 2016 auf Englisch veröffentlichten Buch „Geontologies: A Requiem to Late Liberalism“ über die Ontologie des Nicht-Lebens (Geo-Ontologie) und über ihre Machtformen. Die Geschichte der Erde kommt nicht zur Sprache, wohl aber die Offenbarung der Gesetze der Erde über die Welt, die der Spätliberalismus als drohende Machtformen artikuliert. Beschreibt man die Erde als die verborgene Falte – ein Faden in Heideggers Technikphilosophie –, die durch das Werk die Welt eröffnet, dann spricht „Geontologien“ von den Offenbarungstechniken (des Spätliberalismus), mittels derer sich die Erde entschleiert. Durch Extraktion, Explotation, Enteignung und Deterritorialisierung tritt die Erde in die Welt und öffnet sich für sie.

    Geontologie & Geomacht

    Povinelli verwendet Geo als Ausdruck für Nicht-Leben. Diese Gleichsetzung wird nicht erklärt. Allerdings geht man intuitiv von der Verbindung zwischen den nicht organischen Strukturen (vor allem Rohstoffe) und dem Nicht-Leben aus. Diese Gleichsetzung erfordert aber einen Unterschied von Leben und Nicht-Leben. Geo soll auf diese Differenz antworten, und deshalb soll laut Povinelli die Differenz zwischen Leben und Nicht-Leben erhalten bleiben.

    „Geontologien, sowie die Geomachten, sind nicht die Ontologie des Nicht-Lebens, sondern die Ontologie, die aus der Differenz Leben/Nicht-Leben zu artikulieren sind, sowie die Machtformen, die aus der Differenz Leben und Nicht-Leben konstituieren“ (S. 65).

    Aus dieser Sicht ist der Erde keine organische Eigenschaft beizumessen, im Gegensatz zur Gaia-Hypothese, die den Planet Erde als einen Organismus, der sich selbst reguliert und aufrechterhält, postulierte. Povinelli bezeichnet das Nicht-Leben als Existenz- und Machtform, auf der die Logik des Spätkapitalismus beruht.

    Biopolitik: Wenn die Negation des Lebens nicht Nicht-Leben heißt.

    Foucaults Begriff Biopolitik hat den Schleier von den Machtstrukturen der modernen Gesellschaften weggezogen. Die Macht konstituiert sich in der Form der Aufrechterhaltung des Lebens (Bios), und sie trägt die Kosten der Negation des Todes, was eigentlich eine Unmöglichkeit ist. Soziale Dispositive werden dafür zuständig, die Individualisierungsprozesse gegen jeden Ausdruck des Todes zu schützen, auf Kosten einer Gesellschaft, deren Normen ausschließlich für die Verweigerung des Todes stehen. Die Bestätigung des Lebens über die Negation des Todes, wenn der Tod selbst ein Teil des Lebens ist, ist weniger eine Paradoxie als ein Bestandteil einer libidinösen Struktur, deren Institutionalisierung der Psychoanalyse zu verdanken ist: Wenn sich das Begehren (Eros) in zwei diametral entgegengesetzte Kräfte teilt, nämlich Lebenstrieb vs. Todestrieb, bleibt dem Ich nur übrig, sich für die Negation des Todestriebs zugunsten eines gesunden Körpers und einer gesunden Psyche einzusetzen.

    Als die Psychoanalyse den Todestrieb sowohl für körperliche als auch für geistige Erkrankungen verantwortlich machte, war es die Pflicht sozialer Institutionen (Schule, medizinische Einrichtungen etc.), die Gesellschaft gegen den Tod zu wappnen anstatt für ihr Leben zu sorgen. Doch diese Täuschung und die in ihr verborgenen Machtstrukturen hat Foucault entschleiert. Biopolitik ist der markanteste Terminus, der die Machtstrukturen, auf denen das Leben aufgebaut ist, bezeichnet: Das Leben, das den Tod als Teil des Lebens aufnehmen soll, spielt gegen ihn. Ergo: Die Politik über das Leben spielt gegen das Leben, denn der Tod hat am Leben teil. Ich wiederhole: Im Umkehrschluss heißt dies, dass das Leben gegen sich selbst vorgeht.

    Povinelli zeigt zugleich, dass diese Debatte schon längst eine Tradition in der Philosophie begründet hat. Beispiele dafür sind der von Hannah Arendt beklagte Eingriff des liberalen Staates in die Privatsphäre oder Canguilhems epistemologische Analyse der Gesetze des Normalen in den sozialen Institutionen. Ebenso zeigt die Autorin die Fruchtbarkeit der Machtanalyse Foucaults. Die These, dass eine auf der Negation des Lebens beruhende politische Praxis eine Gesellschaftsform der Affirmation des Todes modelliert hat, hat riesige Zustimmung gefunden. Der Terminus Inmunität wurde als die Spitze einer Erweiterung der biopolitischen Machtform begriffen. Von Agamben über Esposito und Derrida bis zu Donna Harawey kann man den roten Faden ziehen, dass den Tod schützende Techniken die Vernichtung des Lebens verursachen können, deren Ausdrucksform nicht der Tod ist, sondern die den Tod in einer leblosen latenten Lebensform aufzeigen. Darüber hinaus hat sich die auf dem Leben beruhende Politik in mehrere Formen der Machtstrukturen ausdifferenziert:

    „Biopolitik hat zahlreiche Neologismen hervorgebracht (…) wie Thanatopolitik, Nekropolitik, etc.“ (S. 14).

    Povinelli erkennt sämtliche Machtstrukturen und Existenzformen, welche der Dialektik Leben vs. Tod zugeordnet sind. Allerdings ergreifen die gegenwärtigen Machtformen eine über den Tod hinaus organisierte Form des Lebens, nämlich das Nicht-Leben.

    Povinellis Beitrag besagt, dass der späte Liberalismus über den Bios hinaus in eine Sphäre des Lebens greift, die nicht dem Tod entgegengesetzt ist, sondern dem Nicht-Leben. Sie entscheidet sich für die Begriffe Geontologie und Geomacht, weil sie feststellt, dass

    „die gegensätzlichen Komponenten Nicht-Leben (geo) und Sein (Ontologie), zurzeit in der spätliberalen Gouvernante der Differenz und der Marke im Spiel sind“ (S. 17).

    Die Geomacht stellt wie erwähnt eine Kombination von Diskursen, Affekten und Taktiken dar, die im Spätliberalismus eingesetzt werden und die Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben erhalten. Diese Macht ist aber nicht neu, sagt Povinelli, sie ist tief in der Verfahrensweise der Biomacht verwurzelt – über stochastische Abläufe spezifischer Algorithmen und Experimente in den sozialen Medien.

    Leben vs. Nicht-Leben: Die Erweiterung der Gattung (genos) Leben.

    Indem Povinelli die Machtstruktur des Spätliberalismus auf die Achse Leben und dessen Negation, Nicht-Leben, stellt, erweitert sie die biopolitische Dialektik auf einer übergeordneten Ebene: Das Leben (es beinhaltet sowohl das Leben als auch den Tod) vs. Nicht-Leben.

    „Das ist das Schema, das sich jetzt abzeichnet: Leben (Leben – Geburt, Wachstum, Fortpflanzung – vs. Tod) vs. Nicht-Leben“ (S. 23).

    Leben wird laut diesem taxonomischen Schema die Gattung (genos) sein, die Bios und Tod enthält. Ihr steht, laut einer zweiwertigen Klassik, deren Negation entgegen, das Nicht-Leben. Diese logische Methode der Taxonomie ist so alt wie die platonische Diharesis, nach der die Verallgemeinerungen und Unterschiede auf der Identitätslogik Leben = Leben beruhen.

    Eine Ausdehnung der Kategorie des Lebens (das sowohl Leben als auch Tod beinhaltet), die dem Nicht-Leben gegenübersteht, soll Povinelli die Möglichkeit geben, eine kritische Sprache zu finden,

    „mit der sich der Moment erfassen lässt, in dem eine Machtform, die in bestimmten Regimen des Siedler-Spätliberalismus seit langem selbstverständlich ist, weltweit zutage tritt“ (S. 17).

    Der Auslöser Anthropozän

    Eine auslösende Evidenz für die Ausdehnung der Gattung der Lebensordnung ist laut Povinelli das Anthropozän. Natürlich wird diese Trennung vom kapitalistischen Liberalismus vorangetrieben, doch ist das Anthropozän der Beweis einer neuen Organisation von Macht, die den Rahmen des Lebens, über den Tod hinaus, nun vom Nicht-Leben abgrenzt.

    Unter mehreren Quellen, die den Namen Anthropozän tragen, ist der geologische Hinweis für Povinellis Geontologie ausschlaggebend: Auf einmal war wissenschaftlich nachgeprüft und nachgewiesen, dass die Menschheit nicht zu den Tieren zählt, sondern sich als eine einzigartige Gattung, die den Planeten Erde bewohnt, in Wechselwirkung mit einer mineralischen Zusammenstellung herausgebildet hat. Im Anthropozän liegen genügend Nachweise für die geochemische Koppelung zwischen Mensch und Erde vor, da der Mensch sich in seinem anthropotechnischen Wesen ebenfalls herausgebildet hat.

    Das Leben kann sich nicht mehr aus der Koppelung von geo, bio und technischen Komponenten ergeben.

    Geomacht ist die Form des Spätliberalismus, denn sie ist die Macht über das Nicht-Leben. Die Macht drückt sich in Formen aus, in denen das Nicht-Leben als die Negation des Lebens bestätigt wird. Die Affirmation des Lebens leitet sich aus der Negation des Nicht-Lebens her: ein einfaches tautologisches Kalkül. Laut dieser Differenz sind die nicht-organisch strukturierten Wesensformen von ihrer Existenz enteignet.

    Povinelli veranschaulicht die Geomacht über die Ontologie des Nicht-Lebens mittels dreier Figuren. Sie will die Täuschung aufzeigen, dass die Anorganizität des Rohstoffs doch eine Existenzform besitzt.  Diese drei Formen sind drei Topologien, drei Vorbilder einer Machtform über das Nicht-Leben: Die Wüste, die Animistin und Viren. Die Wüste sei das Plateau der Extraktion, der Vertreibungen und somit der Löschung jeder Art von Signifikanten, die eine Teilhabe an einer territorialen Gebundenheit zeigt.

    Über die Existenzformen des Nicht-Lebens: Eine Paradoxie?

    Geontologie stellt eine Paradoxie dar, welche die naturwissenschaftliche Taxonomie leugnete, nämlich die klassische Dichotomie zwischen organisch und nicht organisch strukturierten Wesen, die Differenz zwischen Bios und Geo. Diese affirmiert die Existenzformen des Nicht-Lebens. Welche sind die Arten, die das Nicht-Leben umfasst? Stoffe, Röcke, Knochen, Fossilien etc. Die leblosen Stoffe, die anorganische Materie sind mit dem Bios verbunden. In dieser Koppelung kommen neue Ordnungen zustande.

    Die Affirmation der Existenz des Nicht-Lebens führt zu einer zweiten Frage: Welche sind dann ihre Normen? Auf welcher normativen Ebene beruhen sie? Elizabeth Povinelli ist natürlich auf die Normativität des Nicht-Lebens eingegangen, weil die Machtformen des Nicht-Lebens den roten Faden ihres Buches bilden. Im Rahmen der Materialismusdebatte (neuer Materialismus, spekulativer Materialismus, spekulativer Realismus und objektorientierte Theorie) sucht sie ebenso Lösungen dafür wie die kritische Theorie der letzten Jahre. Mit der Materialismusdebatte ist Kants Korrelation zwischen dem Denken und dem Sein zerbrochen: Es gibt Existenzformen, die denkbar, aber nicht erkennbar sind und umgekehrt. So fruchtbar und sinnvoll die Debatte des Neuen Materialismus für die Findung anderer Existenzformen ist, die nicht die Mensch-Welt-Beziehung als Mittelpunkt haben, so scheint für Povinelli die Materialismusdebatte nicht die einzige zu sein, die sich mit der Frage der Normativität des Nicht-Lebens befasst. Vielleicht weil die Ordnung des Nicht-Lebens nicht dem gleicht, das die Negation des Todes reguliert hat. Die Ordnung des Nicht-Lebens steht in einer Wechselwirkung mit einer immer noch offenen Umwelt, deren Bildung eine Menge Unordnung verursacht.

  • Interview on Cybernetics with Stuart A. Umpleby

    Interview on Cybernetics with Stuart A. Umpleby

    Arantzazu Saratxaga Arregi (ASA): Dear Mr. Umpleby, thank you for agreeing to be interviewed for my own blog. I am delighted to have you as a contributor.

    Let me to introduce you briefly: Stuart A. Umpleby is a North American cybernetician. He was a Professor in the Department of Management and Director of the Center for Social and Organizational Learning in the School of Business at George Washington University. He has served as the President of the American Society of Cybernetics (ASC) and as associate editor of Cybernetics and Systems. Some of his publications include  „A History of the Cybernetics Movement in the United States“ (2005), „The Design of Intellectual Movements“ (2002), „Knowledge Management from the Perspective of Systems Theory and Cybernetics“ (2000), „Cybernetics of Conceptual Systems“ (1994), and „The Science of Cybernetics and the Cybernetics of Science“, in: Cybernetics and Systems (1990). He has extensively published on cybernetics and systems thinking topics.

    First experiences and memories of your first encounters with the BCL

    ASA: In 1967, you worked in the Computer-Based Education Research Laboratory (PLATO) and the Biological Computer Laboratory (BCL) as a graduate student at the University of Illinois. Prior to that, you worked. at the Institute of Communications Research.

    SU:  Yes, The University of Illinois in Urbana-Champaign (UIUC) was among the few US universities that had created a communication curriculum at the doctoral level. At UIUC students have the option to pursue a major in behavioral science, cultural studies, or cybernetics.

    The cybernetics program maintains affiliations with both the Institute for Communications Research in the College of Communications and the Biological Computer Laboratory in the College of Engineering. During the 1940s, multiple universities across the United States established Institutes for Communications Research. Other universities such as the University of Pennsylvania, the University of Southern California, and Stanford University also established multidisciplinary programs in the social sciences.

    ASA:  Heinz von Foerster participated in the Macy Foundation Conferences (1946-1953). In 1958, he founded BCL to continue work on the topics he learned about at the Macy conferences.  One of their most important contributions was the successful interdisciplinary research effort that brought together fields from the natural, social, and engineering sciences. The Macy Conferences greatly influenced Heinz’s thinking and his teaching and research.  And the opportunity to study communications from a cybernetics point of view continued in the College of communication. Most students in the communications program chose to study the field through the behavioral science or cultural studies tracks, rather than cybernetics.   Heinz von Foerster continued to work on the ideas discussed at the Macy Conferences.  He conducted Special Problems courses on topics like heuristics or cybernetics that attracted students from a wide range of departments. But he approached these courses not as part of a fixed curriculum in a course catalogue.  Instead, he treated each course as a research endeavor, not as part of a curriculum that would be repeated each semester.

    SU: Yes, self-organization, particularly Ross Ashby’s explanation of it, was discussed at BCL.  But more important than the concept of self-organization was the interest in epistemology that had been discussed at the Macy conferences and continued to motivate most of the work in BCL.

    ASA:  You collaborated with Heinz von Foerster and Ross Ashby at BCL during the early 1970s. You earned your PhD in communications under the supervision of Heinz von Foerster. Two monographs, published in Austria, „An Unfinished Revolution“ (edited by Albert Müller and Karl Müller), and the „History of BCL“ by Albert Müller pay tribute to the work conducted over 16 years at BCL. The institution was a research site for self-organization and facilitated fruitful exchanges between scientists, providing an ideal environment for knowledge acquisition. Additionally, Heinz von Foerster, following Warren McCulloch’s lead, was interested in epistemology. Von Foerster embarked on an epistemological shift, referred to as second-order cybernetics or later constructivism.

     Your career was very much shaped by your doctoral studies at BCL. One could say that you were dedicated to promoting cybernetic approaches and extending them towards the social sciences and management.  Could you discuss how BCL impacted your career path and sparked your interest in this field? What specifically intrigued you about BCL, and could you recount your most significant experience during your time there?  

    SU:  Students who pursue engineering begin by studying physics. I really liked the style of thought in physics—the way it was organized and investigated. However, my interest was in social systems. I wanted to study social systems using a style of thought similar to physics.  BCL’s practice of cybernetics offered exactly what I was seeking.

    Second Order Cybernetics

    A Scientific Revolution

    ASA: Could you briefly explain your view of „cybernetic orders“?

    SU: Sure. Let me explain my views on „higher orders of cybernetics.“

    Early cybernetics focused on engineering problems, for example an automatic pilot or an automatic assembly line. Examples of control included biological processes in homeostasis and accounting activities in businesses.

    Second Order Cybernetics (SOC) was developed by Heinz von Foerster.  It was his way of drawing attention to the biology of cognition, a subject of interest to him and McCulloch and Maturana and Varela.  This was known as „biological cybernetics,“ quite different from the early engineering work in cybernetics and quite different from artificial intelligence (AI).  SOC aimed to understand human cognition, while AI aimed to create computer systems replicating human cognition. These are two separate objectives.

    Current AI has created machine intelligence that can replace some instances of human cognitive activity, for example producing summaries of literature or writing classroom papers, also generating vast quantities of „personalized“ propaganda.

    SOC called attention to the role of observers in producing any description.  Contrary to early scientific practices, cyberneticians claimed that observers could not be eliminated from science.  Not only did observers design, conduct, and interpret experiments, but their intentions, values, and purposes were also integral to the scientific process and must not be ignored.

    ASA: Beautiful, true.

    ASA:  Second order cybernetics was characterized as a paradigm shift, in the words of Thomas Kuhn. Numerous monographs and books appeared in the 1960s and 1970s during the discussions of self-organization.

    SU:  A leading scholar in cybernetics at UIUC was Ross Ashby. Ashby formulated two laws: 1.  The law of requisite variety (the amount of regulation that can be performed is limited by the amount of information available), and 2. the principle of self-organization (every isolated, determinate, dynamic system obeying unchanging laws, will develop organisms that are adapted to their environments).  His goal was to create a theory explaining how the brain engages in adaptive behavior.

    ASA:  You mentioned 2nd order cybernetics, a field that focused on experimental epistemology. To that end, you mention the McCulloch’s research on brain functionality. It’s very interesting that this work led to a second-order epistemic turn, exploring how to describe brain functionality since science is conducted using the brain.Warren McCulloch’s work is not widely known, but it is fundamental.  Consider the titles of some of his articles, “What is in the brain that ink may character?” “A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous activity.” (cite more article titles) For me, the turn from the first to the second order is that experimental epistemology or neurophysiological research is not limited to describing brain activity through mapping theories but ventures into metalanguage in an attempt to describe brain activity.

    SU:  Yes, second order cybernetics involves paradox.  This approach is, of course, made possible by the introduction of observers into the description of brain activity. The disciplinary basis of second order cybernetics was rooted in neurophysiology.

    Second order science

    ASA:  Perhaps the introduction of a „second order“ into the language of science was revolutionary. Heinz von Foerster expanded the concept to the sciences in general since it relates to the language game of recursive facts. Second-order organization is referred to as the organization of organization, while second-order observation refers to the observation of observation.

    SU:  Yes, Observers have always been fundamental to science.  Observers formulate hypotheses, test hypotheses, and evaluate research.  However, for many years scientists said that the observer should be excluded from consideration in order to achieve objectivity.  The current view is that science without an observer is not physically possible.  Who would formulate theories and hypotheses and conduct experiments and present results?

    ASA:  You mention the concept of a „second-order science.“ Can you describe a little bit more what the science of science would be, how cybernetics has contributed to this second order, and what is the gain for the sciences when you speak of a second order?

    SU:  According to Karl Mueller, second-order cybernetics gives rise to second-order science, where the observer becomes a central object of analysis.  Thus, when one acknowledges the role of the observer, they enter the realm of second-order observations. 

    Second-order cybernetics for social systems.

    ASA:  Moreover, this research aims to enhance the applicability of cybernetics to social systems. It has been noted that second-order cybernetics was predominantly focused on the cognitive/biological aspects linked to the nervous system. Moreover, this research aims to enhance the applicability of cybernetics to social systems. Therefore, the focus must shift toward social systems, going beyond biological cybernetics.

    It is imperative to question whether the inherent non-social nature of the second-order cybernetics approach lies in its emphasis on communication systems. One example is the research conducted by Margaret Mead and Gregory Bateson, who aimed to enhance the effectiveness of feedback mechanisms and circular causality in social systems. Both Mead and Bateson played a significant role in the Macy conferences, which led to the formation of cybernetics. In what ways do you believe that cybernetics lacks emphasis on social research?

    SU: I do not believe that the field of cybernetics lacks emphasis on social research.  Some scientists may hold a different view.

    Cybernetics of the third order

    Three Words on Third Order Cybernetics

    ASA: The purpose of this issue of „Neocybernetics“ is to highlight the new paths of cybernetics. It should be noted that these developments cannot be generalized systematically, as cybernetics‘ history represents a diverse practice of knowledge. Previously, we discussed the paradigm shift of second-order cybernetics in the sciences. Now, I will delve into the ways cybernetics is continuously growing and changing.

    The foundations of third-order cybernetics draw upon concepts attributed to V.S. Tepid and V.A. Lectorsky of the Russian Academy of Sciences. Vladimir Lepskiy conceptualized third-order cybernetics, which was further developed by him and his colleagues at the Institute of Philosophy at the Russian Academy of Sciences (RAS). 

     The search for theoretical foundations and practical provisions of third-order cybernetics has recently become a topic of scientific interest. Would you kindly provide a brief explanation of the core concern of third-order cybernetics? 

    SU:  Third order cybernetics was concerned with the context of social processes.

    Coupling between society and idea

    ASA: The interrelationship between social systems and ideas appears to be a crucial aspect of third-order cybernetics, potentially fostering the development of a humane society (Umpleby 1992, 2002).

    But is not the interaction between ideas and society already present in the second order, insofar as the systems consist of observers, shaped by their respective ideas and prejudices, from whose interaction a collective intelligence emerges?

    SU: Each “order” of cybernetics calls attention to phenomena that require examination.  The issues involved might pertain to a discipline that the scientist may not be familiar with, for example neurophysiology or government and law or environmental concerns.

    Management for a humanitarian model of society

    ASA: The realization of achieving a humanitarian social system, a key concern in third-order cybernetics, can be achieved through organizational science or management. Therefore, the focus of third-order cybernetics is to look at modern management theory and practice from a new approach, addressing the philosophical foundations. The goal of the new cybernetics is to develop management mechanisms that are suitable for human nature and can overcome its lack of subjectivity. Can you provide some examples of these mechanisms?

    SU: An example of considerations that the scientists may not be familiar with would be the political factors at work in Chile in the early 1970’s when Beer’s Viable System Model was used in managing government processes in Chile.

    Another example would be the environmental consequences of CO2, as would be the buildup of plastics in the environment.

    ASA: Do you think that the interaction between society and ideas can be observed and managed with a technical-organizational tool?

    SU: Yes, the participatory management methods developed by the Institute of Cultural Affairs provide ways of bringing citizens, govt officials and scientists to assemble information and hold meetingsThinking and reflection are involved in these processes.

    Third order Cybernetics

    ASA:  Finally, I want to address a crucial aspect of third-order cybernetics. Certain individuals argue that the third order is redundant since the second order demonstrates the infinite recursion of self-reference. Does this imply that the third order is implicit within the second?

    SU: It is essential that we clarify our intended message, examine comprehensible themes, and avoid complex concepts causing ambiguity.

    Lepskiy was interested in third-order cybernetics or the social and political context of control processes. building upon the disciplinary basis of sociology and political science. 

    Matjaz Mulej suggested fourth order cybernetics or the environmental context of control processes. He pointed out that industrial processes that disregarded the sustainability of the environment could not endure. He emphasized the ethical aspects of any activity. Hence, one can imagine a hierarchy of control processes based in several academic disciplines.

    Von Foerster pointed out that only second-order cybernetics is needed.  Observers have the freedom to incorporate any relevant factors they wish.

    Second-order cybernetics has the capacity to accommodate these supplementary factors.

    Complexity Research

    Third order and global governance

    ASA: Cybernetics involves the self-organization of social systems or societies at the macro level, resulting in self-governing societies, provided that society is understood as a reflexive system. This concern reminds me very much of the main concern of complexity research, insofar as it deals with the governability of global social orders. A mulitude of interactions and interdependencies are purported to underpin a collective intelligence. To this end, complexity research is concerned with „order parameters“ to ensure the global governability of the planet, to minimize conflicts, and to reduce complexity. 

    SU: Complexity issues can be dealt with often using the Law of Requisite Variety.  Complexity requires that either the system observed needs to be simplified or the regulator needs to increase its capabilities.

    LRV is often not used by complexity scholars.  They more often focus on emergence of new patterns or processes. Your interpretation should adhere to the language used in the original formulations.

    ASA: Would you agree with the idea of an overlap of third-order cybernetics and complexity research?

    SU:   Yes these fields discuss many of the same concerns but they often use varying language, terms or principles.

    Complexity research and modeling

    ASA:   Let’s talk a little bit about complexity research. It has self-organization and emergence as its central research agenda. The main question for complexity research is how self-organization comes about, and how to recognize orders and patterns that emerge in a system. Complexity research was founded on the scientific revolution of self-organization that explores how order emerges from disorder.. At first glance, this seems very close to second-order cybernetics, in particular the surface concern of self-organization that Heinz von Foerster reveals in his article „On Self-Organizing Systems and Their Environments“: „Order from Noise“.

    How, if at all, do you think BCL’s research on self-organization differs from complexity research?

    SU:  Self-organization is a natural process – systems tend to go toward their stable equilibrial states.  Think of self-organization as an expanded version of the second law of thermodynamics.  It is not mysterious.  It is ubiquitous.  Emergence produces something new (in the mind of an observer) but it is the result of the same process – systems moving toward their equilibrial states.

    The BCL view is that self-organization is a natural process – systems moving toward equilibrium. Complexity scholars view the emergence of new order as somewhat miraculous, but in  essence, the processes remain the same. This fact is not surprising for cyberneticians but remarkable and wonderful for complexity researchers.  The difference lies in the observers.  BCL was an early research site for self-organization.    (It would be helpful to know when and where the terms “self-organization” and “complexity” were first used.)  The Santa Fe Institute commonly utilized complexity, whereas BCL  did not adopt complexity as a scientific concept  and instead used requisite variety.  Complexity research did not employ either term.

    ASA:  In your previous article, you mentioned that BCL had to shut down due to lack of funding. Coincidentally, the Santa Fe Institute for Complex Systems was established around the same time. Do you believe that Santa Fe Institute established itself as a research institute for self-organization and obtained funding, while BCL did not? Would you assert that Santa Fe Institute continued the work previously done by BCL?

    SU: No, see above.  Complexity and cybernetics interpret novelty differently.  I would say that complexity researchers are confused about what is going on.  Old familiar processes (second law) are adequate explanations.  No new scientific phenomenon has been observed or discovered in the literature on complexity.  Elements came together to form something new, but the process was a movement toward equilibrium.  Stick with fundamentals, cybernetics, avoid hype.

    One organization was doing science, the other was looking for attention.

    I see systems, cybernetics, and complexity as three different fields, each with its own leading figures and favored research questions.  The people in these three fields may have heard of people in the other groups, but they did not know each other well. They did not attend the same conferences or cite the same authors in their references. They were working on different problems.  Each group may have thought that they were working on the important problems, and the other two groups were doing less interesting work.

    In cybernetics there is Ross Ashby’s Principle of Self-Organization – “every isolated, determinate, dynamic system obeying unchanging laws will develop organisms that are adapted to their environments.”  Hence, self-organizing systems develop naturally, automatically.  They may contain organisms and environments. They are not deliberately constructed by a designer.  A complex system, on the other hand, is often created by a designer.  Cybernetics and complexity are two different ways of thinking.  See the table describing the three points of view in the 2019 paper, “Systems, Cybernetics, and Complexity.”

    ASA: Thank you very much for the conversation.

  • Alexandre Kojève bezeugt Diogenesʼ Schweigen

    Alexandre Kojève bezeugt Diogenesʼ Schweigen

    Diogenes von Sinope soll um Zenons Darlegung der Bewegungsparadoxien schweigend umhergelaufen sein. Er scheint den Zirkelschluss von Paradoxien zu verschweigen und somit die Unmöglichkeit der Vielheit und der Bewegung mit einem Schlag zu verneinen. Aufs Spiel gesetzt wird die Rechtfertigung des ideologischen Projekts, das die ganze westliche Weltsicht Jahrhunderte hindurch massiv bestimmt hat: das rationalistische monistische und metaphysische Projekt, nach dem das Sein einzig, unveränderlich, unbeweglich, ewig und vollständig sei. Alexandre Kojève bezeugt im Gegensatz zu dem, was Aristoteles behauptet, dass dem doppelzüngigen Mann doch zu entgehen ist, indem er den Zeugen von Diogenesʼ Schweigen in seinem 1929 verfassten Essay „Zum Problem der diskreten Welt“ als Entzugsform des Zirkelschlusses des monistischen Rationalismus nimmt:

    „Indem nun Diogenes schweigend umherging, deutete er an, dass die Tatsache der Unmöglichkeit des Redens (Irrationalität) in Bezug auf die Frage nach der Wirklichkeit eines Phänomens von keiner entscheidenden Bedeutung ist“. (S.7)

    Dem Merve Verlag ist für die 2023 erfolgte Publikation dieses Texts zu danken. Nicht weniger ist der Leser Isabel Jacobs für die Herausgabe und die exzellente Einführung in den Text Dank schuldig.

    ÜBER DIE MÖGLICHKEIT EINER UNMÖGLICHKEIT: DIE MÖGLICHKEIT DER BEWEGUNG IN EINER WELT, DIE DISKRETE VIELHEIT IST.

    Alexandre Kojève präsentiert das Schweigen als Akt, der Tautologie der Bewegungsparadoxie zu entgehen, um die Möglichkeit der Bewegung in einer diskreten Welt zu postulieren. Nicht weil davon nicht zu reden ist, wenn man sich hier erlaubt, Wittgensteins sprachphilosophisches Axiom zu paraphrasieren, sondern weil Diogenesʼ schweigendes Umherlaufen „ein Protest gegen die These des radikalen Rationalismus [ist]: nur das Vernünftige ist wirklich; ohne eine ‚Widerlegung‘ zu sein, ist es doch sinnvoll“ (S.7).

    Der Autor behandelt das Problem des radikalen Rationalismus in seinem 1929 veröffentlichten Buch „Zum Problem der ‚diskreten‘ Welt“. Die aus einer unendlichen Vielfalt bestehende Welt wird zum Problem für das identitätslogische Postulat. Dagegen will Kojève die Legitimation der Bewegung in einer als diskret mannigfaltig aufgefassten Welt postulieren. Damit greift er das alte Problem namens Bewegungsparadoxie auf, dem zufolge die Bewegung nur im Kontext eines Kontinuums von Zeit und Raum möglich ist. Soll aber die Absolutheit der Zeit der klassischen Mechanik beseitigt werden – wie es die Relativitätstheorie Einsteins tut – dann sei die Bewegung eine Unmöglichkeit. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen einer solchen Sackgasse sind aber sehr weitreichend. Es würde bedeuten, wie Kojève prägnant ausführt, dass die Bewegung in einer diskreten Welt oder für die diskrete Vielfalt weder sprechbar noch denkbar ist oder dass die Bewegung ausschließlich in einem Zeit-Raum-Kontinuum erfolgen kann.

     …Wie fliegt dann der Pfeil der Zeit in einer Welt, die aus Atomen besteht?

    Der Anfang des 20. Jahrhunderts war durch leidenschaftliche Diskussionen um die Beschaffenheit physikalischer Phänomene gekennzeichnet. Es herrschte große Verwirrung unter den Wissenschaftlern, ob Teile und Wellen bzw. die damals bekannte kontinuierliche und diskontinuierliche Qualität der Materie vereinbar sein können. Als beobachtet wurde, dass ein Elektron, „das man für ein Teilchen hielt, Wellen-Aspekte zeigt, und ein elektromagnetisches Feld, das man für eine Welle hielt, einen korpuskularen Aspekt besitzt“, kehrte das alte Dilemma Zenons zurück, nämlich, ob Teilchen und somit die diskontinuierliche Qualität der Materie überhaupt die Zeit betreffen.

    Alexandre Kojève soll an den heftigen Kontroversen und zugleich der Verwirrung bezüglich der Eigenschaften der neuen Physik beteiligt gewesen sein. In der von Isabel Jacobs verfassten Einleitung erfahren wir, dass Kojève die vom Physiker und Nobelpreisträger des Jahres 1938, Enrico Fermi, am Institut Henri Poincaré gehaltenen Vorlesungen zur Quantenmechanik verfolgte. Darüber hinaus besuchte er ab November 1929 und 1930 Seminare bei Max Born, Paul Langevin, Louis de Broglie und anderen. Der junge Kojève studierte unter Anleitung von Alexandre Koyré Mathematik und theoretische Physik (S. 9). Er war der Sonderfall eines von ganz wenigen Philosophen, die sich den frühen philosophischen Reflexionen zur Relativitätstheorie widmeten. Deshalb begann er 1930 das Buchprojekt „L‘idée du déterminisme dans la physique classique et dans la physique moderne“, in dem er die von den Wissenschaften ausgelöste Krise der Kausalität und des mechanischen Determinismus behandelte.

    ERKENNTNISTHEORIE: EINE SCHNITTSTELLE ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE

    Meiner Ansicht nach ist es das große Verdienst Kojèves, das Problem, das eine Krise der Quantenmechanik auslöste, auf die Ebene der Epistemologie überführt zu haben. Das Anliegen seines Buches besteht darin, die Hypothese einer diskreten „Welt“ aufzustellen und ihre Eigenschaften so zu präsentieren, dass eine Bewegung sowie die Änderung gerecht bleiben. Hier handelt es sich nicht um die Repräsentanz einer physikalischen Welt, sondern um die vom Geist erfassbare Welt, die nach dem Parameter des klassischen Denkens entweder dem Irrationalismus fehlt oder unaussprechlich ist. Die Formulierung des Problems ist dann eine philosophische.

    Zuerst wollen wir einen Blick auf die von Kojève bemerkte Distinktion zwischen Philosophie und Wissenschaft werfen. Dies ist heute ebenso wichtig wie nötig, denn bei den akademischen Institutionen scheint diese Unterscheidung in Vergessenheit geraten zu sein, da man gefordert ist, Philosophie wissenschaftlich zu betreiben. Kojève erinnert uns daran, dass Philosophie nicht Wissenschaft ist, wie umgekehrt Wissenschaft betreiben offensichtlich nicht philosophieren bedeutet. Doch wenn der Anspruch besteht, Philosophie zu betreiben, ist die Kernfrage eine der anderen Qualität des Wissenschaftlichen. Die Philosophie beschäftigt sich mit der Sache selbst, nämlich der „Totalität des Seienden“ (S.21), denn die Wissenschaft hat Gegenstände als Forschungsbereiche. Mit „Totalität des Seienden“ ist die Einheit dessen, was die Sache ist und nicht ist, gemeint. Die Wissenschaft (damit sind vor allem die Naturwissenschaften wie Physik und Mathematik gemeint) beschäftigt sich mit isolierten Systemen, mit Abstraktionen. Das heißt, es sind Annährungen an Gegenstände, ohne dass das Subjekt in die Herstellung des Objekts involviert ist. Die Quantenmechanik bewirkte jedoch eine Wende im Postulat der objektiven Wirklichkeit: das Korrespondenzprinzip von Bohr, die Unschärferelation von Heisenberg, das Relativitätsprinzip von Einstein. Auch wenn alle drei verschiedene Ansätze verfolgen, münden alle in die Verleugnung einer objektiven absoluten Wirklichkeit.

    Kojèves Anspruch besteht darin, das philosophisch-erkenntnistheoretische Problem der diskreten Welt zu präsentieren und epistemologisch zu behandeln. Die Erkenntnistheorie steht an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Wissenschaft. Eine epistemologische Annäherung soll sich auf den Gegenstand richten und zugleich den Unterschied zwischen der Sache und der Nicht-Sache berücksichtigen. In dieser Weise zählt die Erkenntnistheorie nicht zur Seite des erkennenden Subjekts, wie es die damals herrschende kantianische bzw. die Marburger Schule des Idealismus formulierten, sondern das Objekt wird in seiner Sachlichkeit und Nicht-Sachlichkeit berücksichtigt und die Erkenntnis als eine Verwicklung zwischen dem erkennenden Subjekt, der Sache selbst und dem, was nicht die Sache ist, interpretiert.

    SACKGASSE DER PARADOXIEN

    Alexandre Kojève vertritt eine finitistische Hypothese:

    „Die finitistische Hypothese nimmt an, dass die ‚Welt‘ kein Kontinuum ist, sondern aus Atomen besteht. Diese Hypothese ist nicht in dem Sinne finitistisch, als ob sie die Endlichkeit der ‚Welt‘ behauptete. Im Gegenteil, es ist nicht einzusehen, wie eine diskrete ‚Welt‘ endlich sein könnte“ (S.33)

    Unendlich viele Teilchen bilden die Welt, doch scheint diese Welt problematisch zu sein, weil ihre Existenz nicht möglich ist. In einer solchen Welt wären die Zeit und damit die Bewegung, die Änderung ausgeschlossen. Dieser Ansatz scheint mir mehr als die Schlussfolgerung der Paradoxien der monistisch-rationalistischen Lehre der eleatischen Schule zu sein.

    Ich habe den Eindruck, dass die Paradoxien der monistisch-rationalistischen Lehre der eleatischen Schule in eine Sackgasse geraten sind. Egal, ob durch Negation oder Bejahung einer unendlichen Welt, lautet die Schlussfolgerung, dass das Sein der Bewegung, nämlich der Zeit, ausgeschlossen ist. Es ist Kojèves  Anspruch, die Prinzipien der ontotheologischen Metaphysik der eleatischen Schule zu beseitigen. Kojève bejaht die Bewegung und Änderung in einer Welt der diskreten Vielfalt und des Diskreten.

    Die Fundamentalparadoxie der Teilbarkeit: Bewegung ist ausgeschlossen.

    Zenon von Elea (490-430 v. Chr.) gehörte einer der ältesten philosophischen Schulen an, jener der Eleaten, deren wichtigster Vertreter Parmenides von Elea war. Diese Schule weitete die Lehre ihrer wichtigsten Vertreter aus, nämlich den metaphysischen Monismus: Das Sein ist etwas Unveränderliches, Ewiges, Einziges, das Eine.

    Zenon von Elea übernahm es, die monistische Lehre gegen die Einwände der ihr entgegengesetzten vorsokratischen Schulen zu verteidigen. Die Unmöglichkeit von Bewegung, Vielheit, Veränderung und Diversität sollte durch eine strenge Beweisführung auf die Probe gestellt werden. Dies hat er in mehreren Trugschlüssen, von denen zehn überliefert sind, dargelegt. Die Bewegungsparadoxien, der Trugschluss von Achilles und der Schildkröte sowie die Pfeil- und Stadion-Paradoxien sind die am meisten kommentierten. Alle vier zielen darauf ab ab, die Unveränderlichkeit (Paradoxie der Bewegung), die Unteilbarkeit (Dichotomie von Paradoxon und Paradoxie von Achilles und der Schildkröte) sowie die Kontinuität (Pfeilparadoxien) als Wahrheiten zu postulieren.

    Das Dichotomie-Paradoxon, auch Teilungsparadoxon genannt, präsentiert das erste Argument gegen die Möglichkeit der Bewegung. „Sie besteht darin, dass das sich Fortbewegende früher bei der Hälfte ankommen muss als beim Ende“. Die zeitliche Interpretation des Paradoxons besagt, dass es unmöglich sei, „in einer endlichen Zeit eine unendliche Strecke zu durchlaufen“, wie das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte zeigt. Ergo: Die Kontinuität von Raum und Zeitstrecke setzt die Unteilbarkeit und Ausdehnungslosigkeit von Raum und Zeitpunkt voraus. Die Kontinuität einer Raumstrecke setzt die Unteilbarkeit und Ausdehnungslosigkeit eines Raumpunkts voraus. Zwei Aussagen lassen sich daraus ableiten: a) Ein Raum- und Zeitpunkt ist unteilbar und ausdehnungslos; b) eine Raum- und Zeitschrecke ist ein Kontinuum.

    Diese zwei Sätze scheinen die Paradoxien in eine Sackgasse zu führen, wobei behauptet wird, egal ob aus der Sicht der diskontinuierlichen oder der kontinuierlichen Hypothesen: Die Bewegung ist ein Problem für die monistische rationalistische Schule.

    ABSURDITÄT DES UNENDLICHKEITSDILEMMAS

    Die Affirmation der Bewegung einer diskreten Welt ist keine Paradoxie, es sei denn, man geht von den fundamentalontologischen Ansätzen des Parmenides aus. Die Paradoxie liegt dem Fundament Parmenidesʼ zugrunde, das der Philosoph und Kybernetiker Gotthard Günter ontotheologische Tautologie (Sein = Sein) nennt. Aus dieser tautologischen Gleichung erschließt sich, dass die Negation des Seins und dessen Qualitäten (Ewigkeit, Einheit, Einzigartigkeit) zum Nicht-Sein zählen. Ergo entsprechen das Werden, die Veränderungen, die Transformationen und die Vielfalt nicht der objektiven Wirklichkeit, sondern sind einer Illusion der Wahrnehmung zugeschrieben: In der Wirklichkeit ist die Wirklichkeit in sich unverändert.

    Diese Aussage ist das Resultat eines Paralogismus, nicht einer Paradoxie, sagt Kojève. Es handelt sich um sophistische Argumentationen zur Verteidigung einer unveränderlichen Welt. Alles, was das ewige Sein verleugnet, nämlich die Bewegung, ist eine Täuschung. Ein Paralogismus, aber anstatt einer Paradoxie.

    EINE ERKENNBARE DISKRETE WELT: DIE ANNAHME EINES NICHTS-JETZ

    Das Problem der diskreten Welt ist ein philosophisches und erkenntnistheoretisches. Es geht darum, die Möglichkeit der Bewegung in einer als diskret mannigfaltig aufgefassten Welt als erkennbar und erfassbar zu behaupten. Es handelt sich darum, eine sich bewegende Welt einer objektiven Wirklichkeit zuzuschreiben und Änderungen und Transformationen als solche zu erkennen.

    In einer diskreten Welt, wie sie Kojève unterstellt, kann natürlich keine kontinuierliche Zeit mehr bestehen. Die Änderungen können nur sprunghaft erfolgen (S.73-74). Was heißt dann Änderung in einem Weltbild, in dem die kontinuierliche Zeit nicht mehr existiert?

    Es bedeutet, dass die Änderungen drei Konfigurationen annehmen, das Nicht-mehr, das Jetzt und das noch nicht Seiende. Die Jetzt-Dinge, die Noch-nicht-jetzt-Dinge und die Nicht-mehr-Dinge sind qualitativ unterschieden. Das Geworden ist im Werden enthalten. Die Jetzkonfiguration ist eine Qualität der objektiven Wirklichkeit, wie das Noch-nicht oder das Nicht-mehr. Was die Zeitlichkeit beschreibt, ist eine Momentaufnahme. Die kausale Relation zwischen der Jetztkonfiguration und dem Noch-nicht und dem Nicht-mehr ist aber laut Kojèves diskreter Welt nicht linear. Beide, das Noch-nicht und das Nicht-mehr, sind in der Jetzkonfiguration ebenso enthalten wie das Noch-nicht auch eine gleiche objektive Wirklichkeit bezeichnet, die die Qualität einer Potenzialität beschreibt. Der Sprung von einem Zustand zu einem anderen entspricht nicht einer kausalen Logik, eher sind es qualitative Änderungen. Und die Welt, die Welt des Diskreten, ist jener Ort, wo es solche Änderungen gibt. Hoffentlich betrachten wir das Problem der diskreten Welt als Hoffnungsansatz dafür, dass sprunghafte Änderungen den Zustand der Wirklichkeit bezeichnen.

  • Du bist nicht von deiner Mutter gelesen. Sie spricht weder noch liest Derridianisch.

    Du bist nicht von deiner Mutter gelesen. Sie spricht weder noch liest Derridianisch.

    Die sexuelle Differenz lesen von Hélène Cixous, Jacques Derrida. Übersetzt und mit einem Essay versehen von Claudia Simma. Turia + Kant, Wien/Berlin 2023.

    Hélène Cixous hat Angst

    „Ich habe Angst“ (…) „Die Frage beziehungsweise Angst, diese ‚Geschichte‘ der „sexuellen Differenz“ (S. 12).

    Hélène Cixous hat Angst. Sie ergreift das Wort (S. 9). Im Innersten ist sie gerührt. Sie sitzt in einem Saal, um über die sexuelle Differenz zu sprechen, über einen erzählten Traum, der den Titel Fourmis trägt, für den Jacques Derrida das Wort ergreift.

    Das Buch „Die sexuelle Differenz lesen“ enthält zwei Vorträge, die im Rahmen eines Kolloquiums des Collège International de Philosophie gemeinsam mit dem Centre d’Études Fémenines de l’Université Paris-VIII in Paris vom 18. bis 20.10.1990 gehalten wurden. Sie wurden 1994 publiziert und 2023 hat der Verlag Turia + Kant sie unter dem Titel „Sexuelle Differenz lesen“ erneut veröffentlicht. Claudia Simma, die Übersetzerin der gemeinsam verfassten Rede, schrieb das Nachwort, in dem sie die sexuelle Differenz liest, welche Cixous liest, die Derrida liest.

    Wovor hat Hélène Angst? Wenn sie das Wort ergreift, ist sie von der Unheimlichkeit der sexuellen Differenz ergriffen. Ja, sie ist ihr sehr vertraut, sogar „extrem vertraut“ (S. 14). Heimlich und zugleich „zu fremd“ (S. 14) ist ihr die sexuelle Differenz. Sie spricht als Frau und als Frau kennt sie die sexuelle Differenz sehr gut; „wir als Frauen kennen sie gut“ (S. 14). Doch bleibt sie ihr und uns immer noch unbekannt (S. 14).

    Wenn sie das Wort ergreift, ist sie von Angst ergriffen. Angst bricht den Diskurs ab, und um ihr zu entrinnen, muss sie einen anderen Weg als die Ansprache finden, um darüber zu sprechen, was sie vom Reden abhält. Weder die wissenschaftliche Diskussion der Klassifizierung von Geschlechtern noch die epistemologische Kritik an der Anordnung von Arten sind die Auslöser einer solchen Beklemmung. Was ist die Geschichte der sexuellen Differenz? Ist sie vielleicht doch ein Märchen? (S. 12)

    Welche ist dann diese Geschichte?

    …Sie ist die Geschichte der Lesbarkeit

    Die Geschichte der sexuellen Differenz ist die Geschichte ihrer Lesbarkeit. Es geht um die Lesbarkeit der sexuellen Differenz, nicht aber deren Schreibbarkeit. Sie ist gelesen. Das ist der Appel, um welchen das indirekte Gespräch zwischen Hélène Cixous, Jacques Derrida und Claudia Simm kreist.

    Durch die sexuelle Differenz ist die Differenz zu lesen. Diese Aussage irritiert so sehr, dass man sofort an den Ursprung der Lesbarkeit denkt und sich weitere Fragen stellt: Wie wurde sie geschrieben? Wurde sie aufgeschrieben? Wer hat sie geschrieben? Gleicht nicht aber die Geschichte des Lesens der Geschichte des Schreibens?

    Es gibt kein Lesen ohne Schrift. Das Lesen ist eine Entzifferung dessen, was aufgeschrieben ist. Mit oder ohne Anspruch zu verstehen, was verschriftlicht ist, ist die Lesbarkeit der Auslegung dessen, was aufgeschrieben ist, vorausgesetzt. Im Umkehrschluss setzt die Schrift das Lesen voraus. Das Lesen markiert die Sinndeutung dessen, was geschrieben ist, indem das Geschriebene den Sinnhorizont öffnet. Die Hermeneutik des Lesens beruht in dieser Hinsicht auf der zirkulären Logik, welche sie einschließt: Das Lesen setzt die Schrift voraus, die Schrift ist die Markierung einer Differenz beim Lesen. Ohne Lesbarkeit gibt es kein Schreiben, ohne Schreiben ist nichts zu lesen. Das macht allerdings den Zugang zum Ursprung des Lesens schwer: Sich des Ursprungs der Lesbarkeit zu begeben, bringt nichts mehr, als die Geschlossenheit des Kreislaufs zu begehen: kein Lesen ohne Schreiben. Kein Schreiben ohne Lesen.

    Derrida hatte schon das Problem des Zirkelschlusses Lesen/Schreiben geschildert, als er Platon, der der Schrift die Qualität eines pharmakons zuschrieb, ausführlich kommentierte. Die Schrift kündigt das Ende der mündlichen Überlieferung göttlicher Botschaften an, als Philosophie und Dichtung immer noch zusammengehörten und diese in Form von Dialogen aufgeschrieben wurden. Botschaften, die von Göttern vermittelt wurden, werden nicht von Mund zu Mund übermittelt, sondern sie werden aufgeschrieben. Die Schrift ist ein pharmakon, eine Technik, mittels derer die Aufbewahrung von Botschaften auf die Materialität eines Trägermediums übertragen wird. Ein Heilmittel, sofern die Schrift dazu beiträgt, die Mitteilungen massiv zu verbreiten; giftig, sofern man sich nicht mehr bemüht, diese im Speicher der Seele zu bewahren. Dann ist der Teufelskreis der bedingten Wechselwirkung erfolgt: keine Schrift ohne deren Lesbarkeit.

    Die Paradoxie des hermeneutischen Kreises des Lesens, die Derrida anhand des Textes Platons behandelte, setzt eine Asymmetrie voraus. Lesen/Schreiben verstricken sich im Circulus vitiosus der Bedingtheit, weil ein und dasselbe nicht dasselbe sind. Das heißt, das Gelesene stimmt nicht mit dem Geschriebenen eins zu eins überein. Beide berühren sich, Lesen und Schreiben. Sie sind dasselbe, sofern das Gelesene das Geschriebene ist, doch das Gelesene nicht durch das Geschriebene ersetzt werden kann, folglich sind sie doch nicht dasselbe. Der Ausweg aus dieser Paradoxie ist die Übersetzung. Die Lesbarkeit der sexuellen Differenz hängt ab vom Widerstand ihres eigenen Ersetzens Wort durch Wort.

    Es handelt sich hier nicht darum, ob die Bedeutung des einen die Bedeutung des anderen ersetzen kann. Es geht um eine Transduktion, in den Worten von Michel Serres. Denn jede Übersetzung zeigt die Unmöglichkeit des vollständigen Ersetzens, nämlich eines Wortes durch ein anderes Wort, eines Ausdrucks durch einen anderen. Ein vollständiges „Setzen“ oder „Ersetzen“, scheint unmöglich (S. 50).

    …oder eine der Übersetzung

    Wenn Cixous und Derrida sich ans Lesen der sexuellen Differenz wagen, wagen sie deren Übersetzung und die Lesbarkeit der Übersetzung. Die sexuelle Differenz lässt sich lesen, was bedeutet, sie ist eine übersetzte und übersetzbare Differenz. Denn das Ersetzen „von einer Seite zu einer anderen Seite der sexuellen Differenz“ scheint ein misslungenes Kalkül zu sein, denn in der sexuellen Differenz gibt es keine Äquivalenz zwischen den Geschlechtern, da ihr, wie jeder Übersetzung, eine Asymmetrie zugrunde liegt. Jede Seite der sexuellen Differenz ist etwas Einzigartiges, das unersetzbar zu sein scheint.

    „Durch Übersetzen ersetzen scheint möglich. Ebenso wie das Übersetzen von einer zu einer anderen Seite der sexuellen Differenz, und auch das Übersetzen dessen, was man etwas Einsames, Besonderes oder Einzigartiges nennt“ (S. 50)

    Dass es keine sexuelle Differenz mehr gibt als eine solche, die sich übersetzen lässt, unterstreicht die anfängliche These, laut der die sexuelle Differenz eine der Lesbarkeit ist:

    „‚Lesen der sexuellen Differenz‘, das also war der Titel (…) Auch wenn die sexuelle Differenz sich so den Lesarten öffnet, ist sie doch nie von vornherein und durch und durch, de part en part sichtbar. Sie ergibt sich dem Sehen, voir nicht (…), sie gibt sich nur zu lesen“ (S. 79).

    Worte sind keine Erfindungen, sie sind Spuren einer Übersetzung, die man liest und die die Unmöglichkeit eines Ersetzens aufzeigt. Sie sind die Differenz. Worte sind dann Spuren, die man liest, und diese Spuren markieren die sexuelle Differenz.

    „ (…) das ist meine Hypothese, sobald es sexuelle Differenz gibt, gibt es Wörter oder vielmehr Spuren zu lesen. Damit und dadurch beginnt sie. Es mag Spuren ohne sexuelle Differenz geben, zum Beispiel im Falle von nicht sexuiertem, von ungeschlechtlichem  Leben, aber es kann sexuelle Differenz nicht ohne Spuren geben“ (S. 55).

    Das heißt, die Differenz ist im Lesen, dessen Markierung verhüllt und verborgen bleibt. Es ist die Markierung im Körper, die die Schrift gelesen hat. Die Differenz ist weder ontologisch noch epistemologisch, sondern medial und technisch: Es geht um die Lesbarkeit der Differenz.

    Arithmetik der Zwei

    Signatur und Herum-Geschnitten (Zirkumzision) : Derrida als Mann

    Hélène Cixous ergreift das Wort. Sie spricht von einem Bevor, einem Bevor vor dem Lesen: die Signatur. Sie ist in die Materie eingraviert. Verzierungen im Fleisch werden eingeschnitten, bevor man sie überhaupt lesen kann. In der Fläche des Körpers tritt zunächst die Asymmetrie der Information auf.

    „Dieser Körper, dein Körper, denn dein Text ist beständig körperlich, ist signiert, auf unzählige Arten und Weisen signiert, die ganz Zeit geht es um die Signatur, das Unterzeichnen, die Unterschrift“ (S. 16-17).

    Man lernt selbige Signaturen zu entziffern, man lernt die Markierung zu lesen, um sich von anderen zu unterscheiden, in einer Art von Erfindung der Selbst-Identität und der Bestätigung einer Trennung, eines séparement zwischen Ich-Selbst und den anderen. Dann beginnt die hermeneutische Rückschleife ablesen/aufzeichnen. Das Ablesen von aufgezeichneten Spuren, das zum Schreiben führt, sei der Anfang eines Schreibens, das kein Ende mehr hat, als aufzuhören zu lesen.

    Hélène Cixous beginnt mit dem Körper Jacques Derridas. „Du bist (Zirkum)Beschnitten, sage ich, also beginne ich am Körper“ (S. 16). Sie erzählt die Geschichte der Gravierung und des Schnitts in der Männlichkeit, ein Beschnitten-Sein (S. 17), eine Signatur, deren Lesbarkeit die sexuelle Differenz in der Männlichkeit und der Männlichkeit ist. Laut Cixous liest die sexuelle Differenz um die Signatur herum, bei welcher das umgehenden Schreiben Derridas seinen Anfang hat.

     „(…) und das alles vor ihm und an ihm, dieses eigenschnitzten Schreibens noch bevor er lesen konnte ja, das ist dieses (Zirkum)Beschnitten-Sein und dieses (zirkum)beschnittene Wesen“ (S. 16).

    Das eigenschnitzten Schreiben spricht von einem nicht wiedergewonnenen Verlust. „Ist diese Geschichte des (Zirkum)Beschnitten-Seins ein Zug der Männlichkeit?“ (S. 17), fragt sich Cioux.

    Die Geschlechtsdifferenz beginnt mit Gott

    Hélène meinte, dass die sexuelle Differenz im Körper signiert ist. Die erste Differenz ist das Lesen einer Geschlechtertrennung, die über eine Signatur eines Schnittes in der Fläche des Körpers abzulesen ist. Die allererste Geschlechterdifferenz ist zwischen dem Vater und dem Sohn festgelegt. Diese Differenz ist eine der Gattung, des Geschlechts.

    Geschlecht ist ein Ordnungsbegriff, ein Begriff der Klassifikation. Geschlecht heißt Gattung und betrifft eine Gruppe oder Menge von Elementen, die ein Merkmal teilen bzw. das gleiche Merkmal haben. Differenzen werden nach ähnlichen Merkmalen in Gattungen gruppiert, während die Arten auf den Unterschieden ihrer spezifischen Wesenheit oder Begriffsbestimmung beruhen. Eine Gattung unterscheidet sich von einer anderen Gattung durch ihre konträren Verhältnisse. Lebewesen ist jene Gattung, die alle lebenden Systeme einschließt, trotz spezifischer Differenzen, wie eine Blume oder ein Mensch. Sie steht aber in einem entgegengesetzten Verhältnis dem Nicht-Lebewesen gegenüber, wie die anorganische Materie. Wenn die sexuelle Differenz durch ein Gotteswort signiert ist, spricht man von einer Differenz der Gattung, zwischen dem Gott und dem, was nicht Gott ist, wie dessen Kreaturen. Dem Gott-Vater misst man die Eigenschaften des Unsterblichen, Vollständigsten bei. Ihm setzt man dessen Negation entgegen: die Menge seiner Kreaturen, die Unvollständigen, Sterblichen.

    Die erste lesbare sexuelle Differenz ist die Geschichte einer Markierung, welche die Unterscheidung von Göttlichem und Menschlichem trifft: der Verlust der Immanenz zugunsten eines transzendenten Gottes, indem der Gott, ein übergeordnetes Geschlecht, sich seinem Sohn entgegensetzt.

    Arithmetik der Zweiheit

    Eine beschnittene Signatur ist eine der Geschlechterdifferenz, die erste, die zwischen dem Vater und dem Sohn gesetzt wird. Gott ist der Oberbegriff. Der Vatergott, der oberste, der vollständigste, der Schöpfer steht an der Spitze einer Gattungsklassifikation. In der Sprache der Metaphysik lässt sich als die identitätslogische primäre Instanz nennen: Er ist sich selbst gleich und mit sich identisch. Seine Negation, seine konträre soll dann alles umfassen, was nicht unsterblich, nicht vollständig etc. ist und an dessen Spitze sich der Mensch-Mann befindet.

    Die sexuelle Differenz fällt in die Falle der Arithmetik der Zweiheit, weil, wie anfangs erwähnt, die beiden Seiten der sexuellen Differenz nicht ersetzbar sind, indem keine Symmetrie besteht zwischen den zwei differenzierten Teilen. Unter das, was Gott nicht ist, fällt alles, was an der Negation des Nicht-Gottes teilhat. So kommt es, dass die Geschichte der Differenz eine solche der Unterscheidung, der Beschneidung, der Trennung und der Spaltung ist. Nur in der Dialektik der Zweiheit oder in der Arithmetik der Zweiheit geschieht dies. Deswegen stellt sich Derrida die Frage, ob bei Ameisen eine Geschlechterdifferenz zu erkennen ist. Die Arithmetik der Zweiheit fehlt bei Ameisen, „frouniers“.

    Von welcher Differenz spricht die Geschichte der sexuellen Differenz? Derrida und Cioux sprechen von der sexuellen Differenz, der Lesbarkeit der Markierung des sexualisierten Geschlechts anhand der Arithmetik der Zweiheit: hier das Männliche und ihm gegenüber das Weibliche und die ausgeschlossene Dritte, weder Frau noch Mann, sondern frourniers.

    Bei der sexuellen Differenz handelt sich aber um eine Geschlechterdifferenz der zweiten Ordnung, nämlich um die Frau, die ein Mensch (nächstgelegene Gattung) ist, dessen Geschlecht nicht männlich ist (Differenz). Hélènes Verdacht lautet, dass den Frauen die sexuelle Differenz nicht vertraut ist; deswegen haben sie vor dieser Geschichte Angst.

    Dies ist eine Geschichte, die nur die Geschlechterdifferenz des Gott-Sohns betrifft. Diese Unterscheidung ist aber nur eine lesbare. Wer liest den Sohn?

    Mutter

    Derrida meint, dass es für das Unbewusste kein Geben gibt. „Für das Unbewusste oder für das reine Bewusstsein gibt es Geben nicht, Vergeben auch nicht, nur Tausch und beschränkte Ökonomie“ (S. 53). Es hängt davon ab, wo man den Beginn der zirkulären Ökonomie ansetzt, ob in der Hingabe oder in der Annahme, ob in der Gabe oder im Missbrauch. Die erste Beziehung ist eine des Missbrauchs, sagte Serres. Dies bedeutet, sie ist nur einseitig durch den Pfeil der Zeit bestimmt. Der Sohn wird im Körper der Mutter untergebracht, der Sohn, Parasit des Körpers der Mutter.

    Der Körper der Mutter gibt hin, und es handelt sich um eine Gabe, die nicht eine beigemessene Erwiderung findet. Der Ausfall eines vollkommenen Austauschs oder beschränkter Ökonomie liegt nicht, wie Derrida andeutet, in der Beschränkung der Gabe, im Gegenteil, er hat seine Ursache im Übermaß der Gabe (Saratxaga). Wieso ist es so schwer, das Geschenk der Hingabe zu akzeptieren? Das ist der Blick der Mutter. Sie ist da und sie bringt unter. Sie nimmt in Kauf, dass die Gabe nie wiedergegeben wird, sie kann nicht vollständig wiedergegeben werden. „Es gibt immer etwas, das verloren geht, es ist die Unmöglichkeit der Wiedergabe“ (S. 28).

    In einer wunderbaren Art und Weise deutet Hélène Cixous an, wie die Mutter-Sohn-Einheit das Kalkül des (Aus)Tausches bricht. Die Mutter ist eine Außenseite der ersten Signatur, des Wortes. „Die Mutter ist ihm erarbeitet“ (S. 18). Die Mutter ist ihm innerlich, nicht von ihm getrennt. Die Mutter ist dem Mann innerlich, zwischen ihnen ist dann die Trennung, die Abspaltung der Arithmetik der Zweiheit nicht vorhanden. Sie liest die sexuelle Differenz nicht. Die Mutter liest ihn nicht.

    „Der Sohn wird nicht von Mutter gelesen“ (S.27 ) (…)

    weil sie deine Sprache nicht spricht, sie spricht weder noch liest sie Derridianisch“ (S. 28).

    „Gewisse Figuren sind unterdessen wohlbekannt, da sie im Laufe der Bücher in die Lesemythologie unserer Epoche Eingang gefunden haben. (…)

    Die Mutter ist umwerfend, über die Wissenschaft der Worte hinaus prophetisch (S. 27).

    Und dann hat diese Mutter den Schlüssel zu einem entscheidenden Moment dieser ganzen Geschichte: mit ihr hast du immer und nie das letzte Wort gehabt.“ (27)

    Welche wäre dann die Ordnung des Geschlechts aus der Sicht der Mutter, aus dem Körper der Mutter; wie würden sich dann die Arten und Geschlechter einordnen?

    Die Liebe als (symbolisches) Medium der Wiedereinigung einer Séparement

    Das Weibliche und das Männliche, das Feminine und das Maskuline sind einer Geschlechterdifferenz zugeordnet, unter die manche, aber nicht alle Arten fallen. Entweder weiblich oder männlich, sagt die Arithmetik der Zweiheit, welcher Logik der ausgeschlossene Dritte zugrunde liegt. Ein Geschlecht, das zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen steht sowie an beiden teilhat, ist von der zweiwertigen Logik ausgeschlossen, sodass alle Arten, die weder das weibliche noch das männliche Geschlecht haben, von der sexuellen Differenz nicht berücksichtigt sind. Dementsprechend könnte man sagen, dass die sexuelle Differenz von einer konträren Relation spricht, sofern das Weibliche dem Männlichen entgegengesetzt und umgekehrt ist. Zwar besteht eine Komplementarität und, wie die deutsche Sprache diese Beziehung gut ausdrückt, eine gegenseitige. Die eine ist die andere Seite der anderen und umgekehrt.

    Die sexuelle Differenz spricht von der Unmöglichkeit der Synthese der komplementären Relation. Sie ist, wie Derrida feststellt, die Geschichte einer Trennung, eines séparement.

    Séparément, „einzeln, (ab)getrennt, abgeschnitten, abgesondert“, kommt diesmal ganz allein. Das Wort tritt ganz allein vor, vereinzelt, séparément. Als Wort ‚séparément‘ geht als Einzelgänger vor (….) Man kann nicht séparément lieben und man kann nur séparément lieben, in Separation oder Ungleichheit des Paars. In unendlicher, weil inkommensurabler Distanz: nie werde ich dieselbe Distanz halten (…) Unendliche Separation im Paar, couple selbst und in der Parität des Paars, paire (65)“

    Die Synthese einer konträren und zugleich gegenseitigen Relation scheint aber im Medium der Liebe möglich zu sein. Wie schon vorher bei der Geschlechterdifferenz erwähnt, ist die Einheit eine Eigentümlichkeit Gottes. Und wenn man überhaupt vom Geschlechterunterschied spricht, ist vom Göttlichen und dem, was nicht unter das Göttliche fällt, die Rede.

    Die (Rede der) sexuelle(n) Differenz hält die Absonderung der Geschlechter aufrecht. Ihre Geschichte ist nicht eine der Differenz, sondern eine, die über eine irreparable Zäsur spricht: die Unmöglichkeit der Einheitlichkeit von Geschlechtern. Eher setzt die Liebe die Dramatik der Unmöglichkeit in Gang, die eine Vereinsamung voraussetzt, die nie aufgehoben wird, solange die Liebe als Medium die Wahrscheinlichkeit einer Unmöglichkeit besitzt (Saratxaga, „Liebe: Wenn eine Möglichkeit wahrscheinlich wird“, forthcoming).

    Die Sprache der Liebe ist die Sprache, welche die Trennung entfernt. Sie zieht die Grenze der sexuellen Differenz hinaus, doch je näher die Liebe rückt, desto ferner ist das Einswerden.

    Geschlechterdifferenz ist eine Differenz der Lesbarkeit. Die Trennung ist eine der markierten Signatur im Körper. Hélène spricht von einer Geschichte, nicht von der Trennung, nicht einer solchen, die ihr Angst bereitet und die auch nicht in einer Fabel zu lesen ist oder in der Fabel Trost findet.

    „Sexuelle Differenz ist eine Fabel, beziehungsweise eine Mär“, so würde die Kopula „ist“ es ermöglichen den Satz und die Aussage umzukehren: Fabel, jede Fabel also, ist sexuelle Differenz“ (S. 52).

  • Zum Irrenhaus führt kein Irrweg

    Zum Irrenhaus führt kein Irrweg

    „Die Kinder von La Borde“ von Emmanuelle Guattari in Turia + Kant, 2021.

    Dieses autobiographisch-poetische Buch, in Frankreich 2021 als „La petite Borde“ veröffentlicht, erschien im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Die Kinder von La Borde“ im Verlag Turia und Kant. Obwohl diese Rezension ein wenig spät erscheint, hinterlasse ich hier ein paar Zeilen über ein wunderschönes Testament eines freien Sozialisationsspiels außerhalb des bürgerlichen Dreiecks (Vater/Mutter/Kind) und innerhalb einer chaosmotischen Ordnung.

    Dieses autobiographisch-poetische Buch, in Frankreich 2021 als „La petite Borde“ veröffentlicht, erschien im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Die Kinder von La Borde“ im Verlag Turia und Kant. Obwohl diese Rezension ein wenig spät erscheint, hinterlasse ich hier ein paar Zeilen über ein wunderschönes Testament eines freien Sozialisationsspiels außerhalb des bürgerlichen Dreiecks (Vater/Mutter/Kind) und innerhalb einer chaosmotischen Ordnung.

    In Form einer Sammlung von Anekdoten und spaßigen kurzen Erzählungen berichtet die Schriftstellerin Emmanuelle Guattari über ihre unbefangene schöne Kindheit im Schloss der Verrückten, La Borde. Die Autorin beschreibt mit harmlosen Geschichten die magische Welt, in der sie ihre Kindheit verbrachte.

    Ein riesiger Park umgab das Schloss, das die Verrückten bewohnten. Dort liefen die Verrückten ohne Zäune herum (S. 25). Am Park, die Teiche, den Tümpel, die Tiere: Beide, die Verrückten und die Kinder, teilten denselben Ort, hatten La Borde als ein Zuhause.

    La Borde Klinik, Cour-Cheverny (Tal der Loire, Frankreich)

    Bekanntlich wurde die experimentelle psychiatrische Klinik La Borde im Dorf Cour-Cheverny von dem französischen Psychiater Jean Oury gegründet. Das Projekt vertrat den Standpunkt, Wahnsinn nicht als von normativen Strukturen bestimmte Pathologie zu sehen, sondern die Kranken auf der Basis von menschlichen Beziehungen und kollektiver Sozialisation zu behandeln. Ein auf Kollektivität und Gemeinschaft basierendes Konzept sollte der traditionellen Ausschließung psychisch Kranker entgegenstehen. Ab Mitte der 1950er Jahre arbeitete und lebte der Philosoph und Psychoanalytiker Félix Guattari zusammen mit seinen Kindern, unter ihnen Emanuelle, im Schloss La Borde. Félix Guattari akzeptierte mit vollem Recht den Kompromiss eines kollektiven und explorativen Raumes für die Erforschung von Zusammenfügungen von Kräften und Potenzialitäten des Kollektiven (Chaosmose). Das ödipale Dreiecksmodell, bestehend aus Vater/Mutter/Kind, konstituiert die mikrosozialen Zellen und Muster der normativen Errichtung moderner Gesellschaften und stellt sich der Kollektivierung von subjektiven Kräften des explorativen Raums von La Borde diametral entgegen.

    La Borde war eine Unterkunft, welche die Regeln der Internierung Geistesgestörter umkehrte. Hier fällt die gesperrte Mauer von psychiatrischen Anstalten herunter, sodass die psychosomatischen Anomalien kaum der Kategorie des Pathologischen zuzuordnen waren. Vielmehr öffneten sie sich hier auf die wundervolle Lichtung der freien Wiese, welche das Schloss umgab.

    La Borde, le droit à la folie

    Zum Irrenhaus führt kein Irrweg.

    Fischen, in den Hühnerstall hineingehen, den Schweinen Essen bringen, sich auf den Weg zu einem Theaterstück der Verrückten machen, ein Land voller Entdeckungen und Erfindungen, das den Blick des Mädchens anzog, auf deren Pfaden das Mädchen von La Borde wanderte.

    Zum Schloss des Wunders führt kein Irrweg, doch die Wege nach Hause sind jene der Irren. So, wie das Land des Wunderbaren von Alice von phantastischen Wesen bewohnt war, war das von Verrückten bewohnte Land, im Gegensatz zum Land Alices, ihr Schloss, nicht mehr das Haus, in das man zurück soll. Die Verblendung und Realitätsverleugnung, die Alices Wunderland aufzeigt, sind bei den Kindern von La Borde nicht vorhanden, es gab dort weder Widersprüche noch Gedankenlosigkeit des Phantastischen. In dieser Hinsicht schlägt die poetische Perspektive in Emmanuelles Alltagsbeschreibung ihres Zuhauses jede epische Erzählung, von der Odyssee bis zu Alice im Wunderland, wo die Wege nach Hause, die Rückkehr nach Hause nur über Irr- und Umwege zu bewandern sind.

    Narrenturm (Wien). Erste psychiatrische Klinik Kontinentaleuropas 1784.

    Soll das Haus bzw. Heim eines des Irren sein, dann sind die Wege dorthin kaum welche, die bewältigt werden sollen. Kein bösartiger Geist steht entgegen, keine Hindernisse versperren die Wege nach Hause, keine heroische Operation soll die Wege nach Hause beanspruchen, keine Hemmung gegen bezaubernde Begegnungen. Es handelt sich um die Spielerei des Lebens im Freien. Alles war so wahrhaftig wie die Welt, in der sie aufwuchs. Doch als sie in den Kindergarten geschickt wurde, hatte sie erkannt, dass das magische Schloss, im dem sie aufwuchs, eine Klinik war; oder dass die Klinik, das Zusammenleben mit den Verrückten, der magische und phantastische Ort war, an dem sie in ihrer Kindheit heranwuchs.

    Die ewig jungen Gesichter

    Sie ähneln sich in der Jungenhaftigkeit ihrer Gesichter. Beide scheinen jung zu sein und in der Welt des Wunders ist der Schein, die Wahrheit. Die Verrückten sollen junge Gesichter haben, erzählt der Vater Emmanuelle („mein Vater pflegte zu sagen: Großer Wahnsinn hält jung“ (S. 109).

    Junge Gesichter hemmen vielleicht ihre Ängste nicht, im Gegensatz zu dem, was Alice im Wunderland lernt, das Land des Wahnsinns und die Verfügung des Phantastischen zu fürchten. Durch und mit Angst lernt Alice, Gefahren zu sehen, ihren Wahnsinn zu begraben und den Weg nach Hause zu finden.

    Emmanuelle hat keine Angst vor Verrückten. „Hatten wir Angst vor den Verrückten? Nicht vor allem und auf jeden Fall nicht mehr als vor normalen Menschen“ (S. 109). Die Kinder von La Borde begeben sich aber auf den Weg des Wunders ohne jene Beklemmung: „Ich entdeckte die Oper, als ich die Treppe der Klinik hinunterkam, wo im Grand Salon eine Arie gesungen wurde: „Mein Herz erschließet sich in der Glut deiner Liebe“ (S. 110).

    Emmanuelle erzählt uns die Sprache der Phantasie in der Wirklichkeit eines Kindes. Man spricht von der Einbildungskraft, diesem geistigen Trieb, der das Sehen dessen, was man nicht sieht, ermöglicht; oder das zu bilden, was noch nicht existiert; oder aus der Kraft eine imaginäre Realität zu schaffen.

    Den Kindern ist die Verzerrung der Realität und Phantasie gestattet. Genauso wie der Blick der Verrückten, die sich etwas einbilden. Ihnen ist allerdings der Einbildungssinn nicht zugelassen, sondern der Sinn des Wahns.

    Vielleicht aus dem Grund, dass sie erwachsen sind. Wenn beim Erwachsenen die Einbildung die Grenze der Phantasie überschreitet, sind sie krank, geistesgestört oder verrückt. Beide aber, Wahnsinnige und Kinder, besitzen junge Gesichter: „Würden wir also am Ende wie die Verrückten reden, wenn wir erwachsen wären?“ (S. 110), fragt sich Emmanuelle.

  • Die Wahrheit der Lüge oder die Lüge der Wahrheit

    Die Wahrheit der Lüge oder die Lüge der Wahrheit

    Jean-Luc Nancy: Die Wahrheit de Lüge, Wien: Passage, 2023.

    Wenn das Wort der Wahrheit auf Kinder und Erwachsene gerichtet wird und wenn sie die Bejahung der Lüge verspricht, verdient diese Rede eine Besprechung. Der schon vor beinahe zwei Jahren verstorbene französische Philosoph Jean-Luc Nancy hielt den 2021 posthum veröffentlichten Vortrag „La verité du mesonger“.

    2023 erschien eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Die Wahrheit der Lüge“. Der Vortrag und die ihm folgende Fragerunde handeln wesentlich von der Legitimität der Lüge. Das Gelingen eines solchen Versuchs beginnt mit einer bloßen offenbaren Argumentation, nämlich, dass bei Kindern die Lüge wahrhaftig zu gerecht ist, denn ihr Welthorizont ist nicht paradoxfrei, worin Lügen und Wahrheiten zusammenleben: „Für Kinder ist die Lüge etwas Normales, weil sie sich den Erwachsenen nicht gänzlich anvertrauen können: Denn sie spüren sehr deutlich, dass die Erwachsenen zum Teil in einer anderen Welt leben. (…) Kinder sind noch nicht ganz in der Gesellschaft“ (S. 13). Man kann nicht der Lüge ihre Wahrheit entziehen oder die Wahrheit der Lüge verneinen, sofern der Wahrheit misstraut wird.

    Kinder sind die Verräter der Wahrheit der Wahrheit par excellence, weil ihre Welt nach anderen Regeln aufgebaut ist als jene, die die Gesellschaft ordnen. Mit der Wahrheit des Wunderhorizonts von Kindern, besiedelt mit phantastischen Erfindungen. macht Jean-Luc Nancy aus seinem dekonstruktivistischen Gestus, nämlich dem Misstrauen gegenüber der Wahrheit, einen Appell für ein soziales Zusammenleben in mehrwertigen Welten. Wie eine pluralistische Welt überhaupt zustande kommen kann, ist das Thema seines letzten großes Buches (Von einer Gemeinschaft, die sich nicht verwirklicht. Übers. Esther von der Osten. Turia + Kant, Wien 2018). Das Misstrauen gegen eine identitätslogische absolute Wahrheit führt nicht in die Falle des Relativismus, sondern öffnet die Wahrheit für ihre paradoxe Bestimmung: Die Wahrheit der Lüge ist so legitim wie die Lüge der Wahrheit. Die Annahme einer solchen Paradoxie bedeutet nicht, dass alle Stellungnahmen vertretbar sind, wie der Relativismus meint, sondern dass es so viele Welten wie Wahrheiten gibt.

    Der Relativismus wäre dann eine Stellungnahme, welche die Trivialität von Wahrheiten verspricht, nicht aber die Wahrheit der Lüge entbirgt. Der Relativismus enthüllt aber nicht die Lüge der Wahrheit, auch wenn sie in jeweilige einzelne Realitäten zerfällt und sie rechtfertigt. Dazu führt Nancy aus dass sämtliche -ismen, nämlich Weltanschauungen, auf Wahrheiten und wahren Ideen beruhen. Und heute spricht die Wahrheit der Ideengebäude von ihrer Lüge: „Heute sind Ideologien vielleicht eine Form von Lüge, die nicht unbedingt willentlich, nicht als Lüge beabsichtigt ist, sondern die darin besteht, auf große, umfassende Zusammenhänge zu verweisen, die aufgeblasen werden, um sich auf eine große Idee zu berufen“ (S. 42).

    Ist aber nicht die Lüge der Wahrheit der Wahrheit der Lüge entsprechend?

    Aus der Sicht eines Dekonstruktivisten bewahrt der Autor die Skepsis einer identitätslogischen Wahrheit, sowohl angesichts ihrer Verneinung als auch ihrer Bejahung. Nancy will und führt keinen philosophischen Diskurs über die die Philosophie stiftende Frage, die Wahrheit der Wahrheit. Obwohl er zur Tradition der Dekonstruktion und Phänomenologie gehört und die Wahrheit mit den Zeichen ihrer Abwesenheit ein Hauptthema dieser Tradition war oder zumindenst die Koryphäen dieser Tradition es zum Thema der Philosophie gemacht hatten, wendet er diese Vorträge von grundlegenden Auseinandersetzungen mit der Ontologie und Metaphysik der Geschichte der Philosophie ab. Ohne sich hier in postmoderne Diskussionen verwickeln zu wollen, nimmt er den kürzesten Weg, nämlich die Wahrheit der Lüge, um die Lüge der Wahrheit auf den Tisch zu legen, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene.

    Ist die Lüge das Gegenteil von Wahrheit? Eine schwierige Frage für einen Dekonstruktivisten, „denn ist die Lüge kompliziert“ (S. 15), sagt er; für jemand, der die Absolutheit der Wahrheit leugnet. Das Ziel, eine Wahrheit der Lüge zu vertreten, besteht nicht darin, gegen die Wahrheit der Wahrheit wahrhaftig zu wirken. Eher besteht hier die Absicht, die geistige Komponente der Lüge aufzuzeigen und deren performative Legitimität darzustellen: Alle Menschen lügen, weil die Lüge eine Sache der Sprache ist. Lügen heißt, nicht die Wahrheit zu sagen (S. 15).

    Die Lüge ist dem Geist innerlich, sie gehört zum Geist. Der Autor spielt mit der etymologischen Herkunft des französischen Wortes mesonger, um es zu veranschaulichen. Mesonger stammt vom lateinischen mentiri, das wiederum von mens abgeleitet ist, dies heißt Geist. Tiere können nicht lügen, vermutlich weil sie eine Seele, jedoch keinen Geist haben, „weil sie nicht sprechen“ (S. 50). Sie können sich tarnen gegen die Bedrohung einer Gefahr oder zur Begattung scheinen sie anders, weil sie zugunsten der einen oder der anderen die andere täuschen wollen, doch sie lügen nicht. Ist aber die Tarnung des Menschen eine Lüge? Die strategische Täuschung ist eine Art von Lüge, meint Nancy, mit der Anerkennung und der Bezichtigung.

    Wieso lügt man dann? Um über die Schatten die Wahrheit sehen zu können. Weil die Lüge ein notwendiger Wert ist, um über die Wahrheit sprechen zu können. Mit anderen Worten sagt Nancy, dass die Lüge dort Sicherheit gibt, wo Gefahr und Bedrohung bestehen. Es mag sein, Kinder lügen deswegen. Es ist eine Mittäterschaft miteinander, wenn sie sich von der Erwachsenenwelt schützen müssen. Ihnen fällt es nicht schwer, es ist eine leichte Aufgabe, vielleicht, weil sie bemerkt haben, dassdie Wahrheit genauso eine Erfindung ist wie die Wahrheit selbst. Deshalb können Kinder am besten den Inhalt dieses Vortrags verstehen: dass die Wahrheit einer Lüge der Lüge der Wahrheit entspricht.

    Folglich ist laut einer Entscheidung der Herausgeber das 2023 erschienene Buch in eine Reihe eingebettet: „Für Kinder und Erwachsene“ in Anlehnung an W. Benjamins großartige Aufgabe, für Kinder und an Kinder gesprochen zu haben (Radiosendungen). Danke Peter Engel für diese wunderschöne Reihe.

  • Wie ein Adler entfaltest du deine Flügel und den Blick in den Himmel richtend fragst du: wieso?

    Wie ein Adler entfaltest du deine Flügel und den Blick in den Himmel richtend fragst du: wieso?

    Am Tag Mariä Himmelfahrt, Christi Mutter, die mitleidende Mutter.

    Mit offenen Armen, wie aufgespannte Flügel und erhobenen Hauptes hebt sie die Brust und blickt in den Himmel. Sich auflehnend fragt sie Gott den Vater: Wieso? Ihr Sohn liegt zu ihren Füßen, tot am Boden. So blickt die Skulptur Pietà von Jorge Oteiza am Fries der Basilika Unserer Lieben Frau von Arantzazu in der baskischen Provinz Gipuzkoa in Spanien.

    Die Pietà gilt als Darstellung der Mater Dolorosa (Schmerzmutter). Sie stellt den Schmerz der Mutter Christi dar, bei der Momentaufnahme der vorletzten Station des Kreuzandacht, als die Leiche Christi auf dem Boden lag. Das Mitleid der Muttergottes hat die Bildhauerkunst im Motiv der Pietà nachgeahmt. Es ist seit dem frühen 14.Jahrhundert gebräuchlich und zählt zu den bekanntesten ikonographischen Darstellungen des Mittelalters.

    Der nicht wieder gutzumachende Schmerz, Christi Verlust, lässt sich sehr gut an der Pietà der Heilig-Kreuz-Kapelle des Wallfahrtsklosters aus dem 14. Jahrhundert veranschaulichen. Die Gottesmutter ist von zahlreichen Pfeilen umgeben, während sie, „unsere Liebe Frau mit den Pfeilen“, den gestorbenen nackten Jesus Christus in ihrem Schoß hält.

    Marmor skulpturierte Plastik Michelangelos in der Capella de la Pietà gilt als das bekannteste Vesperbild. Dieses mitsamt den ihr vorangehenden Darstellungen zeigt die Christus haltende leidende Mutter, ähnlich jener von Rondanini in Mailand.

    Der Bildhauer Jorge Oteiza zeigt aber eine leere Pietà ohne Mantel, fast ohne physiologische Merkmale, zu deren Füßen der Leichnam Christi liegt. Sie hält ihr totes Kind nicht auf ihrem Schoß, sondern es liegt unbedeckt auf dem Boden, während die Mutter mit herzförmigem Gesicht schreiend zum Himmel aufschaut. Sie fragt empört: Welches Schicksal hast du meinem Kind zugedacht? Wieso? Diese gegen die Schuld auf Christus schiebende Frage, diese religiöse Darstellung einer schmähenden Mutter erschüttern das baskische Bistum und den Vatikan in Rom. Die mehr als drei Meter breite und hohe skulpturierte Jungfrau mitsamt den 14 Aposteln lag 12 Jahre wegen eines vatikanischen Verbots in der Gosse.

    1950 wurden die Grundlagen zur Umgestaltung der Basilika von Arantzazu veröffentlicht. Die Architekten Francisco Sáenz de Oiza und Luis Laorga hatten die höchste Punktezahl bekommen und ihnen wurde der Bau der neuen Basilika übertragen. Mit der Einrichtung des Frieses wurde der Künstler Jorge Oteiza beauftragt, mit den Gemälden der Krypta der Maler Nestor Basterretxea, mit der Apsis Carlos Pascual de Lara, mit dem Buntglas Javier Alvarez de Eulate und mit den Toren der Bildhauer Eduardo Chillida.

    Die neue Basilika wurde 1955 gebaut. Eduardo Chillida und Javier Alvarez de Eulate durften ihre Arbeit fortsetzen, obwohl die künstlerischen Arbeiten von Oteiza, Lara und Basterretxea nicht den Vorschriften der kirchlichen Kunst entsprachen. Der Bischof von San Sebastian, Jaime Front Andreuri, schickte die Entwürfe nach Rom: „Diese Päpstliche Kommission, die gemäß den Richtlinien des Heiligen Stuhls über den Anstand in der religiösen/heiligen Kunst wacht, kann die vorgelegten Entwürfe leider nicht genehmigen“. Der Bischof von San Sebastian erteilte ihr die Befugnis zum Verbot, das 1954 erging.

    Die mehr als fünf Tonnen wiegende Pietà sieht so aus, als sie in den Himmel fliegt. Unter der Pietà stehen 14 entleerte Apostel. Sie sind entleert, entkörpert. Die Zahl der Apostel und deren entleerte und entkörperte Figuren widersprechen der herrschenden kirchlichen ikonographischen Darstellung. „Die Apostel, die wie aufgeschnittene heilige Tiere aussehen, sagen uns, dass sie sich selbst entleert haben, weil sie ihr Herz in andere gesteckt haben“, meinte der Künstler Jorge Oteiza. Jeder von ihnen ist drei Meter hoch und wiegt fünf Tonnen. Oteiza selbst nannte die Dynamik der Apostel ein „Friesballett“, seine Technik ist die Hyperbolik, der ausgehöhlte Zylinder. Der Kalkstein erinnert an die umliegenden Berge, die unregelmäßigen Volumina an den Abdruck des Wassers auf dem Fels. Seine Dynamik verbindet sich mit einer symmetrischen Komposition des Werks.

    Die beiden Apostel am Ende der Reihe sind nach vorne gewandt und umhüllen mit dieser Geste das Ganze. Die anderen blicken nach oben zur Mutter, die in den Himmel schaut. Widersprechend lehnt sich der Eifer der Mutter gegen den Himmel auf: Mein Sohn ist nicht schuldig, unsere Kinder sind nicht schuldig.