Alexandre Kojève bezeugt Diogenesʼ Schweigen

Diogenes von Sinope soll um Zenons Darlegung der Bewegungsparadoxien schweigend umhergelaufen sein. Er scheint den Zirkelschluss von Paradoxien zu verschweigen und somit die Unmöglichkeit der Vielheit und der Bewegung mit einem Schlag zu verneinen. Aufs Spiel gesetzt wird die Rechtfertigung des ideologischen Projekts, das die ganze westliche Weltsicht Jahrhunderte hindurch massiv bestimmt hat: das rationalistische monistische und metaphysische Projekt, nach dem das Sein einzig, unveränderlich, unbeweglich, ewig und vollständig sei. Alexandre Kojève bezeugt im Gegensatz zu dem, was Aristoteles behauptet, dass dem doppelzüngigen Mann doch zu entgehen ist, indem er den Zeugen von Diogenesʼ Schweigen in seinem 1929 verfassten Essay „Zum Problem der diskreten Welt“ als Entzugsform des Zirkelschlusses des monistischen Rationalismus nimmt:

„Indem nun Diogenes schweigend umherging, deutete er an, dass die Tatsache der Unmöglichkeit des Redens (Irrationalität) in Bezug auf die Frage nach der Wirklichkeit eines Phänomens von keiner entscheidenden Bedeutung ist“. (S.7)

Dem Merve Verlag ist für die 2023 erfolgte Publikation dieses Texts zu danken. Nicht weniger ist der Leser Isabel Jacobs für die Herausgabe und die exzellente Einführung in den Text Dank schuldig.

ÜBER DIE MÖGLICHKEIT EINER UNMÖGLICHKEIT: DIE MÖGLICHKEIT DER BEWEGUNG IN EINER WELT, DIE DISKRETE VIELHEIT IST.

Alexandre Kojève präsentiert das Schweigen als Akt, der Tautologie der Bewegungsparadoxie zu entgehen, um die Möglichkeit der Bewegung in einer diskreten Welt zu postulieren. Nicht weil davon nicht zu reden ist, wenn man sich hier erlaubt, Wittgensteins sprachphilosophisches Axiom zu paraphrasieren, sondern weil Diogenesʼ schweigendes Umherlaufen „ein Protest gegen die These des radikalen Rationalismus [ist]: nur das Vernünftige ist wirklich; ohne eine ‚Widerlegung‘ zu sein, ist es doch sinnvoll“ (S.7).

Der Autor behandelt das Problem des radikalen Rationalismus in seinem 1929 veröffentlichten Buch „Zum Problem der ‚diskreten‘ Welt“. Die aus einer unendlichen Vielfalt bestehende Welt wird zum Problem für das identitätslogische Postulat. Dagegen will Kojève die Legitimation der Bewegung in einer als diskret mannigfaltig aufgefassten Welt postulieren. Damit greift er das alte Problem namens Bewegungsparadoxie auf, dem zufolge die Bewegung nur im Kontext eines Kontinuums von Zeit und Raum möglich ist. Soll aber die Absolutheit der Zeit der klassischen Mechanik beseitigt werden – wie es die Relativitätstheorie Einsteins tut – dann sei die Bewegung eine Unmöglichkeit. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen einer solchen Sackgasse sind aber sehr weitreichend. Es würde bedeuten, wie Kojève prägnant ausführt, dass die Bewegung in einer diskreten Welt oder für die diskrete Vielfalt weder sprechbar noch denkbar ist oder dass die Bewegung ausschließlich in einem Zeit-Raum-Kontinuum erfolgen kann.

 …Wie fliegt dann der Pfeil der Zeit in einer Welt, die aus Atomen besteht?

Der Anfang des 20. Jahrhunderts war durch leidenschaftliche Diskussionen um die Beschaffenheit physikalischer Phänomene gekennzeichnet. Es herrschte große Verwirrung unter den Wissenschaftlern, ob Teile und Wellen bzw. die damals bekannte kontinuierliche und diskontinuierliche Qualität der Materie vereinbar sein können. Als beobachtet wurde, dass ein Elektron, „das man für ein Teilchen hielt, Wellen-Aspekte zeigt, und ein elektromagnetisches Feld, das man für eine Welle hielt, einen korpuskularen Aspekt besitzt“, kehrte das alte Dilemma Zenons zurück, nämlich, ob Teilchen und somit die diskontinuierliche Qualität der Materie überhaupt die Zeit betreffen.

Alexandre Kojève soll an den heftigen Kontroversen und zugleich der Verwirrung bezüglich der Eigenschaften der neuen Physik beteiligt gewesen sein. In der von Isabel Jacobs verfassten Einleitung erfahren wir, dass Kojève die vom Physiker und Nobelpreisträger des Jahres 1938, Enrico Fermi, am Institut Henri Poincaré gehaltenen Vorlesungen zur Quantenmechanik verfolgte. Darüber hinaus besuchte er ab November 1929 und 1930 Seminare bei Max Born, Paul Langevin, Louis de Broglie und anderen. Der junge Kojève studierte unter Anleitung von Alexandre Koyré Mathematik und theoretische Physik (S. 9). Er war der Sonderfall eines von ganz wenigen Philosophen, die sich den frühen philosophischen Reflexionen zur Relativitätstheorie widmeten. Deshalb begann er 1930 das Buchprojekt „L‘idée du déterminisme dans la physique classique et dans la physique moderne“, in dem er die von den Wissenschaften ausgelöste Krise der Kausalität und des mechanischen Determinismus behandelte.

ERKENNTNISTHEORIE: EINE SCHNITTSTELLE ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE

Meiner Ansicht nach ist es das große Verdienst Kojèves, das Problem, das eine Krise der Quantenmechanik auslöste, auf die Ebene der Epistemologie überführt zu haben. Das Anliegen seines Buches besteht darin, die Hypothese einer diskreten „Welt“ aufzustellen und ihre Eigenschaften so zu präsentieren, dass eine Bewegung sowie die Änderung gerecht bleiben. Hier handelt es sich nicht um die Repräsentanz einer physikalischen Welt, sondern um die vom Geist erfassbare Welt, die nach dem Parameter des klassischen Denkens entweder dem Irrationalismus fehlt oder unaussprechlich ist. Die Formulierung des Problems ist dann eine philosophische.

Zuerst wollen wir einen Blick auf die von Kojève bemerkte Distinktion zwischen Philosophie und Wissenschaft werfen. Dies ist heute ebenso wichtig wie nötig, denn bei den akademischen Institutionen scheint diese Unterscheidung in Vergessenheit geraten zu sein, da man gefordert ist, Philosophie wissenschaftlich zu betreiben. Kojève erinnert uns daran, dass Philosophie nicht Wissenschaft ist, wie umgekehrt Wissenschaft betreiben offensichtlich nicht philosophieren bedeutet. Doch wenn der Anspruch besteht, Philosophie zu betreiben, ist die Kernfrage eine der anderen Qualität des Wissenschaftlichen. Die Philosophie beschäftigt sich mit der Sache selbst, nämlich der „Totalität des Seienden“ (S.21), denn die Wissenschaft hat Gegenstände als Forschungsbereiche. Mit „Totalität des Seienden“ ist die Einheit dessen, was die Sache ist und nicht ist, gemeint. Die Wissenschaft (damit sind vor allem die Naturwissenschaften wie Physik und Mathematik gemeint) beschäftigt sich mit isolierten Systemen, mit Abstraktionen. Das heißt, es sind Annährungen an Gegenstände, ohne dass das Subjekt in die Herstellung des Objekts involviert ist. Die Quantenmechanik bewirkte jedoch eine Wende im Postulat der objektiven Wirklichkeit: das Korrespondenzprinzip von Bohr, die Unschärferelation von Heisenberg, das Relativitätsprinzip von Einstein. Auch wenn alle drei verschiedene Ansätze verfolgen, münden alle in die Verleugnung einer objektiven absoluten Wirklichkeit.

Kojèves Anspruch besteht darin, das philosophisch-erkenntnistheoretische Problem der diskreten Welt zu präsentieren und epistemologisch zu behandeln. Die Erkenntnistheorie steht an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Wissenschaft. Eine epistemologische Annäherung soll sich auf den Gegenstand richten und zugleich den Unterschied zwischen der Sache und der Nicht-Sache berücksichtigen. In dieser Weise zählt die Erkenntnistheorie nicht zur Seite des erkennenden Subjekts, wie es die damals herrschende kantianische bzw. die Marburger Schule des Idealismus formulierten, sondern das Objekt wird in seiner Sachlichkeit und Nicht-Sachlichkeit berücksichtigt und die Erkenntnis als eine Verwicklung zwischen dem erkennenden Subjekt, der Sache selbst und dem, was nicht die Sache ist, interpretiert.

SACKGASSE DER PARADOXIEN

Alexandre Kojève vertritt eine finitistische Hypothese:

„Die finitistische Hypothese nimmt an, dass die ‚Welt‘ kein Kontinuum ist, sondern aus Atomen besteht. Diese Hypothese ist nicht in dem Sinne finitistisch, als ob sie die Endlichkeit der ‚Welt‘ behauptete. Im Gegenteil, es ist nicht einzusehen, wie eine diskrete ‚Welt‘ endlich sein könnte“ (S.33)

Unendlich viele Teilchen bilden die Welt, doch scheint diese Welt problematisch zu sein, weil ihre Existenz nicht möglich ist. In einer solchen Welt wären die Zeit und damit die Bewegung, die Änderung ausgeschlossen. Dieser Ansatz scheint mir mehr als die Schlussfolgerung der Paradoxien der monistisch-rationalistischen Lehre der eleatischen Schule zu sein.

Ich habe den Eindruck, dass die Paradoxien der monistisch-rationalistischen Lehre der eleatischen Schule in eine Sackgasse geraten sind. Egal, ob durch Negation oder Bejahung einer unendlichen Welt, lautet die Schlussfolgerung, dass das Sein der Bewegung, nämlich der Zeit, ausgeschlossen ist. Es ist Kojèves  Anspruch, die Prinzipien der ontotheologischen Metaphysik der eleatischen Schule zu beseitigen. Kojève bejaht die Bewegung und Änderung in einer Welt der diskreten Vielfalt und des Diskreten.

Die Fundamentalparadoxie der Teilbarkeit: Bewegung ist ausgeschlossen.

Zenon von Elea (490-430 v. Chr.) gehörte einer der ältesten philosophischen Schulen an, jener der Eleaten, deren wichtigster Vertreter Parmenides von Elea war. Diese Schule weitete die Lehre ihrer wichtigsten Vertreter aus, nämlich den metaphysischen Monismus: Das Sein ist etwas Unveränderliches, Ewiges, Einziges, das Eine.

Zenon von Elea übernahm es, die monistische Lehre gegen die Einwände der ihr entgegengesetzten vorsokratischen Schulen zu verteidigen. Die Unmöglichkeit von Bewegung, Vielheit, Veränderung und Diversität sollte durch eine strenge Beweisführung auf die Probe gestellt werden. Dies hat er in mehreren Trugschlüssen, von denen zehn überliefert sind, dargelegt. Die Bewegungsparadoxien, der Trugschluss von Achilles und der Schildkröte sowie die Pfeil- und Stadion-Paradoxien sind die am meisten kommentierten. Alle vier zielen darauf ab ab, die Unveränderlichkeit (Paradoxie der Bewegung), die Unteilbarkeit (Dichotomie von Paradoxon und Paradoxie von Achilles und der Schildkröte) sowie die Kontinuität (Pfeilparadoxien) als Wahrheiten zu postulieren.

Das Dichotomie-Paradoxon, auch Teilungsparadoxon genannt, präsentiert das erste Argument gegen die Möglichkeit der Bewegung. „Sie besteht darin, dass das sich Fortbewegende früher bei der Hälfte ankommen muss als beim Ende“. Die zeitliche Interpretation des Paradoxons besagt, dass es unmöglich sei, „in einer endlichen Zeit eine unendliche Strecke zu durchlaufen“, wie das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte zeigt. Ergo: Die Kontinuität von Raum und Zeitstrecke setzt die Unteilbarkeit und Ausdehnungslosigkeit von Raum und Zeitpunkt voraus. Die Kontinuität einer Raumstrecke setzt die Unteilbarkeit und Ausdehnungslosigkeit eines Raumpunkts voraus. Zwei Aussagen lassen sich daraus ableiten: a) Ein Raum- und Zeitpunkt ist unteilbar und ausdehnungslos; b) eine Raum- und Zeitschrecke ist ein Kontinuum.

Diese zwei Sätze scheinen die Paradoxien in eine Sackgasse zu führen, wobei behauptet wird, egal ob aus der Sicht der diskontinuierlichen oder der kontinuierlichen Hypothesen: Die Bewegung ist ein Problem für die monistische rationalistische Schule.

ABSURDITÄT DES UNENDLICHKEITSDILEMMAS

Die Affirmation der Bewegung einer diskreten Welt ist keine Paradoxie, es sei denn, man geht von den fundamentalontologischen Ansätzen des Parmenides aus. Die Paradoxie liegt dem Fundament Parmenidesʼ zugrunde, das der Philosoph und Kybernetiker Gotthard Günter ontotheologische Tautologie (Sein = Sein) nennt. Aus dieser tautologischen Gleichung erschließt sich, dass die Negation des Seins und dessen Qualitäten (Ewigkeit, Einheit, Einzigartigkeit) zum Nicht-Sein zählen. Ergo entsprechen das Werden, die Veränderungen, die Transformationen und die Vielfalt nicht der objektiven Wirklichkeit, sondern sind einer Illusion der Wahrnehmung zugeschrieben: In der Wirklichkeit ist die Wirklichkeit in sich unverändert.

Diese Aussage ist das Resultat eines Paralogismus, nicht einer Paradoxie, sagt Kojève. Es handelt sich um sophistische Argumentationen zur Verteidigung einer unveränderlichen Welt. Alles, was das ewige Sein verleugnet, nämlich die Bewegung, ist eine Täuschung. Ein Paralogismus, aber anstatt einer Paradoxie.

EINE ERKENNBARE DISKRETE WELT: DIE ANNAHME EINES NICHTS-JETZ

Das Problem der diskreten Welt ist ein philosophisches und erkenntnistheoretisches. Es geht darum, die Möglichkeit der Bewegung in einer als diskret mannigfaltig aufgefassten Welt als erkennbar und erfassbar zu behaupten. Es handelt sich darum, eine sich bewegende Welt einer objektiven Wirklichkeit zuzuschreiben und Änderungen und Transformationen als solche zu erkennen.

In einer diskreten Welt, wie sie Kojève unterstellt, kann natürlich keine kontinuierliche Zeit mehr bestehen. Die Änderungen können nur sprunghaft erfolgen (S.73-74). Was heißt dann Änderung in einem Weltbild, in dem die kontinuierliche Zeit nicht mehr existiert?

Es bedeutet, dass die Änderungen drei Konfigurationen annehmen, das Nicht-mehr, das Jetzt und das noch nicht Seiende. Die Jetzt-Dinge, die Noch-nicht-jetzt-Dinge und die Nicht-mehr-Dinge sind qualitativ unterschieden. Das Geworden ist im Werden enthalten. Die Jetzkonfiguration ist eine Qualität der objektiven Wirklichkeit, wie das Noch-nicht oder das Nicht-mehr. Was die Zeitlichkeit beschreibt, ist eine Momentaufnahme. Die kausale Relation zwischen der Jetztkonfiguration und dem Noch-nicht und dem Nicht-mehr ist aber laut Kojèves diskreter Welt nicht linear. Beide, das Noch-nicht und das Nicht-mehr, sind in der Jetzkonfiguration ebenso enthalten wie das Noch-nicht auch eine gleiche objektive Wirklichkeit bezeichnet, die die Qualität einer Potenzialität beschreibt. Der Sprung von einem Zustand zu einem anderen entspricht nicht einer kausalen Logik, eher sind es qualitative Änderungen. Und die Welt, die Welt des Diskreten, ist jener Ort, wo es solche Änderungen gibt. Hoffentlich betrachten wir das Problem der diskreten Welt als Hoffnungsansatz dafür, dass sprunghafte Änderungen den Zustand der Wirklichkeit bezeichnen.