EIN REQUIEM AUF DEN SPÄTLIBERALISMUS, wenn man denn eine Trauerfeier würdigen will.
Beim Lesen des fast 320 Seiten dicken Buchs „Geontologien: Ein Requiem auf den Spätliberalismus“ freut man sich über ausführliche Gedanken zur Ontologie der Erde. Man freut sich über eine Seinsgeschichte der Erde, denn diese wurde zugunsten der Rechtsordnung des Himmelsgottes Zeus herabgewürdigt. Man erfreut sich an der Geschichte der Erde, deren Töne nicht im Widerhall des Himmels nachklingen (die Erde tönt, gestimmt in das „Echo des Himmels“). Man freut sich über das Anhören ihrer Geschichte, geschrieben nach ihren Gesetzen, welchen sie untersteht, von denen der Puls Persephones sowie die in die Unterwelt Nachgeschickten zeugen, die aus dem Reich des Himmels ins Herz der Erde vertrieben wurden.
Die amerikanische Anthropologin Elizabeth Povinelli erzählt in ihrem 2016 auf Englisch veröffentlichten Buch „Geontologies: A Requiem to Late Liberalism“ über die Ontologie des Nicht-Lebens (Geo-Ontologie) und über ihre Machtformen. Die Geschichte der Erde kommt nicht zur Sprache, wohl aber die Offenbarung der Gesetze der Erde über die Welt, die der Spätliberalismus als drohende Machtformen artikuliert. Beschreibt man die Erde als die verborgene Falte – ein Faden in Heideggers Technikphilosophie –, die durch das Werk die Welt eröffnet, dann spricht „Geontologien“ von den Offenbarungstechniken (des Spätliberalismus), mittels derer sich die Erde entschleiert. Durch Extraktion, Explotation, Enteignung und Deterritorialisierung tritt die Erde in die Welt und öffnet sich für sie.
Geontologie & Geomacht
Povinelli verwendet Geo als Ausdruck für Nicht-Leben. Diese Gleichsetzung wird nicht erklärt. Allerdings geht man intuitiv von der Verbindung zwischen den nicht organischen Strukturen (vor allem Rohstoffe) und dem Nicht-Leben aus. Diese Gleichsetzung erfordert aber einen Unterschied von Leben und Nicht-Leben. Geo soll auf diese Differenz antworten, und deshalb soll laut Povinelli die Differenz zwischen Leben und Nicht-Leben erhalten bleiben.
„Geontologien, sowie die Geomachten, sind nicht die Ontologie des Nicht-Lebens, sondern die Ontologie, die aus der Differenz Leben/Nicht-Leben zu artikulieren sind, sowie die Machtformen, die aus der Differenz Leben und Nicht-Leben konstituieren“ (S. 65).
Aus dieser Sicht ist der Erde keine organische Eigenschaft beizumessen, im Gegensatz zur Gaia-Hypothese, die den Planet Erde als einen Organismus, der sich selbst reguliert und aufrechterhält, postulierte. Povinelli bezeichnet das Nicht-Leben als Existenz- und Machtform, auf der die Logik des Spätkapitalismus beruht.
Biopolitik: Wenn die Negation des Lebens nicht Nicht-Leben heißt.
Foucaults Begriff Biopolitik hat den Schleier von den Machtstrukturen der modernen Gesellschaften weggezogen. Die Macht konstituiert sich in der Form der Aufrechterhaltung des Lebens (Bios), und sie trägt die Kosten der Negation des Todes, was eigentlich eine Unmöglichkeit ist. Soziale Dispositive werden dafür zuständig, die Individualisierungsprozesse gegen jeden Ausdruck des Todes zu schützen, auf Kosten einer Gesellschaft, deren Normen ausschließlich für die Verweigerung des Todes stehen. Die Bestätigung des Lebens über die Negation des Todes, wenn der Tod selbst ein Teil des Lebens ist, ist weniger eine Paradoxie als ein Bestandteil einer libidinösen Struktur, deren Institutionalisierung der Psychoanalyse zu verdanken ist: Wenn sich das Begehren (Eros) in zwei diametral entgegengesetzte Kräfte teilt, nämlich Lebenstrieb vs. Todestrieb, bleibt dem Ich nur übrig, sich für die Negation des Todestriebs zugunsten eines gesunden Körpers und einer gesunden Psyche einzusetzen.
Als die Psychoanalyse den Todestrieb sowohl für körperliche als auch für geistige Erkrankungen verantwortlich machte, war es die Pflicht sozialer Institutionen (Schule, medizinische Einrichtungen etc.), die Gesellschaft gegen den Tod zu wappnen anstatt für ihr Leben zu sorgen. Doch diese Täuschung und die in ihr verborgenen Machtstrukturen hat Foucault entschleiert. Biopolitik ist der markanteste Terminus, der die Machtstrukturen, auf denen das Leben aufgebaut ist, bezeichnet: Das Leben, das den Tod als Teil des Lebens aufnehmen soll, spielt gegen ihn. Ergo: Die Politik über das Leben spielt gegen das Leben, denn der Tod hat am Leben teil. Ich wiederhole: Im Umkehrschluss heißt dies, dass das Leben gegen sich selbst vorgeht.
Povinelli zeigt zugleich, dass diese Debatte schon längst eine Tradition in der Philosophie begründet hat. Beispiele dafür sind der von Hannah Arendt beklagte Eingriff des liberalen Staates in die Privatsphäre oder Canguilhems epistemologische Analyse der Gesetze des Normalen in den sozialen Institutionen. Ebenso zeigt die Autorin die Fruchtbarkeit der Machtanalyse Foucaults. Die These, dass eine auf der Negation des Lebens beruhende politische Praxis eine Gesellschaftsform der Affirmation des Todes modelliert hat, hat riesige Zustimmung gefunden. Der Terminus Inmunität wurde als die Spitze einer Erweiterung der biopolitischen Machtform begriffen. Von Agamben über Esposito und Derrida bis zu Donna Harawey kann man den roten Faden ziehen, dass den Tod schützende Techniken die Vernichtung des Lebens verursachen können, deren Ausdrucksform nicht der Tod ist, sondern die den Tod in einer leblosen latenten Lebensform aufzeigen. Darüber hinaus hat sich die auf dem Leben beruhende Politik in mehrere Formen der Machtstrukturen ausdifferenziert:
„Biopolitik hat zahlreiche Neologismen hervorgebracht (…) wie Thanatopolitik, Nekropolitik, etc.“ (S. 14).
Povinelli erkennt sämtliche Machtstrukturen und Existenzformen, welche der Dialektik Leben vs. Tod zugeordnet sind. Allerdings ergreifen die gegenwärtigen Machtformen eine über den Tod hinaus organisierte Form des Lebens, nämlich das Nicht-Leben.
Povinellis Beitrag besagt, dass der späte Liberalismus über den Bios hinaus in eine Sphäre des Lebens greift, die nicht dem Tod entgegengesetzt ist, sondern dem Nicht-Leben. Sie entscheidet sich für die Begriffe Geontologie und Geomacht, weil sie feststellt, dass
„die gegensätzlichen Komponenten Nicht-Leben (geo) und Sein (Ontologie), zurzeit in der spätliberalen Gouvernante der Differenz und der Marke im Spiel sind“ (S. 17).
Die Geomacht stellt wie erwähnt eine Kombination von Diskursen, Affekten und Taktiken dar, die im Spätliberalismus eingesetzt werden und die Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben erhalten. Diese Macht ist aber nicht neu, sagt Povinelli, sie ist tief in der Verfahrensweise der Biomacht verwurzelt – über stochastische Abläufe spezifischer Algorithmen und Experimente in den sozialen Medien.
Leben vs. Nicht-Leben: Die Erweiterung der Gattung (genos) Leben.
Indem Povinelli die Machtstruktur des Spätliberalismus auf die Achse Leben und dessen Negation, Nicht-Leben, stellt, erweitert sie die biopolitische Dialektik auf einer übergeordneten Ebene: Das Leben (es beinhaltet sowohl das Leben als auch den Tod) vs. Nicht-Leben.
„Das ist das Schema, das sich jetzt abzeichnet: Leben (Leben – Geburt, Wachstum, Fortpflanzung – vs. Tod) vs. Nicht-Leben“ (S. 23).
Leben wird laut diesem taxonomischen Schema die Gattung (genos) sein, die Bios und Tod enthält. Ihr steht, laut einer zweiwertigen Klassik, deren Negation entgegen, das Nicht-Leben. Diese logische Methode der Taxonomie ist so alt wie die platonische Diharesis, nach der die Verallgemeinerungen und Unterschiede auf der Identitätslogik Leben = Leben beruhen.
Eine Ausdehnung der Kategorie des Lebens (das sowohl Leben als auch Tod beinhaltet), die dem Nicht-Leben gegenübersteht, soll Povinelli die Möglichkeit geben, eine kritische Sprache zu finden,
„mit der sich der Moment erfassen lässt, in dem eine Machtform, die in bestimmten Regimen des Siedler-Spätliberalismus seit langem selbstverständlich ist, weltweit zutage tritt“ (S. 17).
Der Auslöser Anthropozän
Eine auslösende Evidenz für die Ausdehnung der Gattung der Lebensordnung ist laut Povinelli das Anthropozän. Natürlich wird diese Trennung vom kapitalistischen Liberalismus vorangetrieben, doch ist das Anthropozän der Beweis einer neuen Organisation von Macht, die den Rahmen des Lebens, über den Tod hinaus, nun vom Nicht-Leben abgrenzt.
Unter mehreren Quellen, die den Namen Anthropozän tragen, ist der geologische Hinweis für Povinellis Geontologie ausschlaggebend: Auf einmal war wissenschaftlich nachgeprüft und nachgewiesen, dass die Menschheit nicht zu den Tieren zählt, sondern sich als eine einzigartige Gattung, die den Planeten Erde bewohnt, in Wechselwirkung mit einer mineralischen Zusammenstellung herausgebildet hat. Im Anthropozän liegen genügend Nachweise für die geochemische Koppelung zwischen Mensch und Erde vor, da der Mensch sich in seinem anthropotechnischen Wesen ebenfalls herausgebildet hat.
Das Leben kann sich nicht mehr aus der Koppelung von geo, bio und technischen Komponenten ergeben.
Geomacht ist die Form des Spätliberalismus, denn sie ist die Macht über das Nicht-Leben. Die Macht drückt sich in Formen aus, in denen das Nicht-Leben als die Negation des Lebens bestätigt wird. Die Affirmation des Lebens leitet sich aus der Negation des Nicht-Lebens her: ein einfaches tautologisches Kalkül. Laut dieser Differenz sind die nicht-organisch strukturierten Wesensformen von ihrer Existenz enteignet.
Povinelli veranschaulicht die Geomacht über die Ontologie des Nicht-Lebens mittels dreier Figuren. Sie will die Täuschung aufzeigen, dass die Anorganizität des Rohstoffs doch eine Existenzform besitzt. Diese drei Formen sind drei Topologien, drei Vorbilder einer Machtform über das Nicht-Leben: Die Wüste, die Animistin und Viren. Die Wüste sei das Plateau der Extraktion, der Vertreibungen und somit der Löschung jeder Art von Signifikanten, die eine Teilhabe an einer territorialen Gebundenheit zeigt.
Über die Existenzformen des Nicht-Lebens: Eine Paradoxie?
Geontologie stellt eine Paradoxie dar, welche die naturwissenschaftliche Taxonomie leugnete, nämlich die klassische Dichotomie zwischen organisch und nicht organisch strukturierten Wesen, die Differenz zwischen Bios und Geo. Diese affirmiert die Existenzformen des Nicht-Lebens. Welche sind die Arten, die das Nicht-Leben umfasst? Stoffe, Röcke, Knochen, Fossilien etc. Die leblosen Stoffe, die anorganische Materie sind mit dem Bios verbunden. In dieser Koppelung kommen neue Ordnungen zustande.
Die Affirmation der Existenz des Nicht-Lebens führt zu einer zweiten Frage: Welche sind dann ihre Normen? Auf welcher normativen Ebene beruhen sie? Elizabeth Povinelli ist natürlich auf die Normativität des Nicht-Lebens eingegangen, weil die Machtformen des Nicht-Lebens den roten Faden ihres Buches bilden. Im Rahmen der Materialismusdebatte (neuer Materialismus, spekulativer Materialismus, spekulativer Realismus und objektorientierte Theorie) sucht sie ebenso Lösungen dafür wie die kritische Theorie der letzten Jahre. Mit der Materialismusdebatte ist Kants Korrelation zwischen dem Denken und dem Sein zerbrochen: Es gibt Existenzformen, die denkbar, aber nicht erkennbar sind und umgekehrt. So fruchtbar und sinnvoll die Debatte des Neuen Materialismus für die Findung anderer Existenzformen ist, die nicht die Mensch-Welt-Beziehung als Mittelpunkt haben, so scheint für Povinelli die Materialismusdebatte nicht die einzige zu sein, die sich mit der Frage der Normativität des Nicht-Lebens befasst. Vielleicht weil die Ordnung des Nicht-Lebens nicht dem gleicht, das die Negation des Todes reguliert hat. Die Ordnung des Nicht-Lebens steht in einer Wechselwirkung mit einer immer noch offenen Umwelt, deren Bildung eine Menge Unordnung verursacht.