Zum Irrenhaus führt kein Irrweg
„Die Kinder von La Borde“ von Emmanuelle Guattari in Turia + Kant, 2021.
Dieses autobiographisch-poetische Buch, in Frankreich 2021 als „La petite Borde“ veröffentlicht, erschien im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Die Kinder von La Borde“ im Verlag Turia und Kant. Obwohl diese Rezension ein wenig spät erscheint, hinterlasse ich hier ein paar Zeilen über ein wunderschönes Testament eines freien Sozialisationsspiels außerhalb des bürgerlichen Dreiecks (Vater/Mutter/Kind) und innerhalb einer chaosmotischen Ordnung.
Dieses autobiographisch-poetische Buch, in Frankreich 2021 als „La petite Borde“ veröffentlicht, erschien im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Die Kinder von La Borde“ im Verlag Turia und Kant. Obwohl diese Rezension ein wenig spät erscheint, hinterlasse ich hier ein paar Zeilen über ein wunderschönes Testament eines freien Sozialisationsspiels außerhalb des bürgerlichen Dreiecks (Vater/Mutter/Kind) und innerhalb einer chaosmotischen Ordnung.
In Form einer Sammlung von Anekdoten und spaßigen kurzen Erzählungen berichtet die Schriftstellerin Emmanuelle Guattari über ihre unbefangene schöne Kindheit im Schloss der Verrückten, La Borde. Die Autorin beschreibt mit harmlosen Geschichten die magische Welt, in der sie ihre Kindheit verbrachte.
Ein riesiger Park umgab das Schloss, das die Verrückten bewohnten. Dort liefen die Verrückten ohne Zäune herum (S. 25). Am Park, die Teiche, den Tümpel, die Tiere: Beide, die Verrückten und die Kinder, teilten denselben Ort, hatten La Borde als ein Zuhause.
La Borde Klinik, Cour-Cheverny (Tal der Loire, Frankreich)
Bekanntlich wurde die experimentelle psychiatrische Klinik La Borde im Dorf Cour-Cheverny von dem französischen Psychiater Jean Oury gegründet. Das Projekt vertrat den Standpunkt, Wahnsinn nicht als von normativen Strukturen bestimmte Pathologie zu sehen, sondern die Kranken auf der Basis von menschlichen Beziehungen und kollektiver Sozialisation zu behandeln. Ein auf Kollektivität und Gemeinschaft basierendes Konzept sollte der traditionellen Ausschließung psychisch Kranker entgegenstehen. Ab Mitte der 1950er Jahre arbeitete und lebte der Philosoph und Psychoanalytiker Félix Guattari zusammen mit seinen Kindern, unter ihnen Emanuelle, im Schloss La Borde. Félix Guattari akzeptierte mit vollem Recht den Kompromiss eines kollektiven und explorativen Raumes für die Erforschung von Zusammenfügungen von Kräften und Potenzialitäten des Kollektiven (Chaosmose). Das ödipale Dreiecksmodell, bestehend aus Vater/Mutter/Kind, konstituiert die mikrosozialen Zellen und Muster der normativen Errichtung moderner Gesellschaften und stellt sich der Kollektivierung von subjektiven Kräften des explorativen Raums von La Borde diametral entgegen.
La Borde war eine Unterkunft, welche die Regeln der Internierung Geistesgestörter umkehrte. Hier fällt die gesperrte Mauer von psychiatrischen Anstalten herunter, sodass die psychosomatischen Anomalien kaum der Kategorie des Pathologischen zuzuordnen waren. Vielmehr öffneten sie sich hier auf die wundervolle Lichtung der freien Wiese, welche das Schloss umgab.
Zum Irrenhaus führt kein Irrweg.
Fischen, in den Hühnerstall hineingehen, den Schweinen Essen bringen, sich auf den Weg zu einem Theaterstück der Verrückten machen, ein Land voller Entdeckungen und Erfindungen, das den Blick des Mädchens anzog, auf deren Pfaden das Mädchen von La Borde wanderte.
Zum Schloss des Wunders führt kein Irrweg, doch die Wege nach Hause sind jene der Irren. So, wie das Land des Wunderbaren von Alice von phantastischen Wesen bewohnt war, war das von Verrückten bewohnte Land, im Gegensatz zum Land Alices, ihr Schloss, nicht mehr das Haus, in das man zurück soll. Die Verblendung und Realitätsverleugnung, die Alices Wunderland aufzeigt, sind bei den Kindern von La Borde nicht vorhanden, es gab dort weder Widersprüche noch Gedankenlosigkeit des Phantastischen. In dieser Hinsicht schlägt die poetische Perspektive in Emmanuelles Alltagsbeschreibung ihres Zuhauses jede epische Erzählung, von der Odyssee bis zu Alice im Wunderland, wo die Wege nach Hause, die Rückkehr nach Hause nur über Irr- und Umwege zu bewandern sind.
Narrenturm (Wien). Erste psychiatrische Klinik Kontinentaleuropas 1784.
Soll das Haus bzw. Heim eines des Irren sein, dann sind die Wege dorthin kaum welche, die bewältigt werden sollen. Kein bösartiger Geist steht entgegen, keine Hindernisse versperren die Wege nach Hause, keine heroische Operation soll die Wege nach Hause beanspruchen, keine Hemmung gegen bezaubernde Begegnungen. Es handelt sich um die Spielerei des Lebens im Freien. Alles war so wahrhaftig wie die Welt, in der sie aufwuchs. Doch als sie in den Kindergarten geschickt wurde, hatte sie erkannt, dass das magische Schloss, im dem sie aufwuchs, eine Klinik war; oder dass die Klinik, das Zusammenleben mit den Verrückten, der magische und phantastische Ort war, an dem sie in ihrer Kindheit heranwuchs.
Die ewig jungen Gesichter
Sie ähneln sich in der Jungenhaftigkeit ihrer Gesichter. Beide scheinen jung zu sein und in der Welt des Wunders ist der Schein, die Wahrheit. Die Verrückten sollen junge Gesichter haben, erzählt der Vater Emmanuelle („mein Vater pflegte zu sagen: Großer Wahnsinn hält jung“ (S. 109).
Junge Gesichter hemmen vielleicht ihre Ängste nicht, im Gegensatz zu dem, was Alice im Wunderland lernt, das Land des Wahnsinns und die Verfügung des Phantastischen zu fürchten. Durch und mit Angst lernt Alice, Gefahren zu sehen, ihren Wahnsinn zu begraben und den Weg nach Hause zu finden.
Emmanuelle hat keine Angst vor Verrückten. „Hatten wir Angst vor den Verrückten? Nicht vor allem und auf jeden Fall nicht mehr als vor normalen Menschen“ (S. 109). Die Kinder von La Borde begeben sich aber auf den Weg des Wunders ohne jene Beklemmung: „Ich entdeckte die Oper, als ich die Treppe der Klinik hinunterkam, wo im Grand Salon eine Arie gesungen wurde: „Mein Herz erschließet sich in der Glut deiner Liebe“ (S. 110).
Emmanuelle erzählt uns die Sprache der Phantasie in der Wirklichkeit eines Kindes. Man spricht von der Einbildungskraft, diesem geistigen Trieb, der das Sehen dessen, was man nicht sieht, ermöglicht; oder das zu bilden, was noch nicht existiert; oder aus der Kraft eine imaginäre Realität zu schaffen.
Den Kindern ist die Verzerrung der Realität und Phantasie gestattet. Genauso wie der Blick der Verrückten, die sich etwas einbilden. Ihnen ist allerdings der Einbildungssinn nicht zugelassen, sondern der Sinn des Wahns.
Vielleicht aus dem Grund, dass sie erwachsen sind. Wenn beim Erwachsenen die Einbildung die Grenze der Phantasie überschreitet, sind sie krank, geistesgestört oder verrückt. Beide aber, Wahnsinnige und Kinder, besitzen junge Gesichter: „Würden wir also am Ende wie die Verrückten reden, wenn wir erwachsen wären?“ (S. 110), fragt sich Emmanuelle.