Arantzazu Saratxaga Arregi

Kategorie: Matrixiale

  • Das Rätsel, ob negative Entropie zu simulieren ist: Ein Kommentar zu Henri Atlans Text „The Mother Machine“.

    Das Rätsel, ob negative Entropie zu simulieren ist: Ein Kommentar zu Henri Atlans Text „The Mother Machine“.

    Als ich in den gesammelten Schriften des Biophysikers Henri Atlan nachschlug, erweckte sein 2005 veröffentlichter Text The Mother Machine meine Aufmerksamkeit.

    Im ersten Augenblick war ich erstaunt darüber, dass ein Naturwissenschaftler, der den kybernetischen Theorien sehr nahesteht, sich überhaupt für die weibliche Seite der Reproduktion interessiert, denn der Diskurs der Selbstorganisation sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Kommunikations- und Informationstheorien ist im Wesentlichen männlich dominiert, während Frauen die Rolle von echten Information-Maschinistinnen einnahmen, wie schon Friedrich Kittler in seinen beiden Büchern zeigt und wie es auch die schöne Geschichte der Musikelektronik (sisterswithtransistors) beweist.

    Es handelt sich um eine Rezension des Buches von Gena Corea aus dem Jahr 1985: The Mother Machine: Reproductive Technologies from Artificial Insemination to Artificial Womb. Henri Atlan muss nichts anderes tun, als die Hauptthese Coreas bestätigen. Der rote Faden des Buches besagt, dass die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin den Traum von der Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper nicht erfüllen, sondern Frauen vielmehr ihrer Handlungsmacht über ihren Körper berauben. Warum? Wegen der „Wiederaneignung der bisher von Männern monopolisierten reproduktiven Techniken“ (Atlan 2005: 345).

    Auch wenn sich in den letzten 40 Jahren die Gleichberechtigung in der Arbeits- und Forschungswelt verbessert hat, folgt die gesamte technische und medizinisch-pharmazeutische Industrie nach wie vor neoliberalen biopolitischen Kriterien, die mit weiblicher Emanzipation schwer vereinbar sind. Dies liegt nicht nur an der männlichen Dominanz in den gesellschaftlichen Strukturen, sondern vor allem an der seit der Nachkriegszeit beschleunigten Etablierung einer neoliberalen, produktions- und vor allem leistungsorientierten Arbeitskultur.

    Reproduktionstechnologien und Emanzipation

    Das erste Argument, das Atlan anführt, bezieht sich auf eine These, der Corea einen Artikel gewidmet hat: „The hidden malpratice: how American medicine mistreats women“ (Atlan 2005: 1985). Darin geht es um die Missachtung des weiblichen Körpers in medizinischen Studien im Allgemeinen. Medizinische Studien würden ihr Verfahren auf die Verallgemeinerung des Geschlechts legen, sodass durch die Nichtberücksichtigung der weiblichen biologischen Voraussetzungen bei Frauen viel mehr negative Auswirkungen als bei Männern eintreten. Die schädliche Konsequenz einer „hypermediacalized procreation“ (Atlan 2005: 343) wird mit einem zweiten Argument aufgezeigt: Die Reproduktionstechnologien, so die These, sollen Frauen nicht von der Reproduzierbarkeit ihres Körpers befreien, sondern ihn im Gegenteil unausweichlich in den Dienst der Reproduktion stellen, trotz schwieriger Bedingungen. Sie sollen ihren Körper in den Dienst der Sicherung des Nachwuchses stellen, durch klinische Verfahren und trotz auftretender Schwierigkeiten. Ihre Körper werden „unjustifiably sacrificed on the altar of reproduction“ (Atlan 2005: 343).

    „But this is only the beginning of a long history of medical interventions, paved with good intentions, to be sure, but in which womenʼs bodies have been unjustifiably sacrificed on the altar of reproduction“ (Atlan 2005: 343).

    So geht es in seinem Kommentar nicht um die ethischen Aspekte der Reproduktionstechnologien. Der emanzipatorische Diskurs und die emanzipatorische Haltung, die in der Tat sehr viel zur sozialen Bewegung der Frauenemanzipation beigetragen haben, bedeuten für Gena Corea jedoch, so Atlan, zwei Seiten einer Medaille. Laut ihnen bleibt die Asymmetrie der Geschlechter durch die Reproduktionstechnologien aufrechterhalten. Sollten die Reproduktionstechnologien eine emanzipatorische Bewegung vorantreiben, wenn Frauen unabhängig von gesellschaftlichen Strukturen über ihren Körper selbst bestimmen könnten, so ist das Gegenteil der Fall, falls eine illegitime Aneignung des weiblichen Körpers durch die technomedizinische Institution stattfindet. „This frankly astonishing observation joins many others accumulated by Corea in support of her thesis of the medical mistreatment of woman of reproductive technology“ (Atlan 2005: 344). Tatsächlich ist nicht die Technik das Problem, sondern die gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie operiert.

    Aufhebung sozialer Asymmetrien

    Mit dem provokanten Titel „Mother Machine“ wollte Henri Atlan die sozialen Konsequenzen als Herausforderung an die Gesellschaft darstellen, von dem, was sozialtechnisch noch als Irrealität, aber nicht als Unmöglichkeit erscheint, nämlich die künstliche Reproduktion einer Gebärmutter. In diesem Zusammenhang stellt er die Frage, ob eine exo-mütterliche Gebärmutter die Asymmetrie der Geschlechter ausgleichen könnte. Man könnte hoffen, dass eine künstliche Gebärmutter die Ungleichheiten bei der Versorgung Neugeborener ausgleichen würde. Aber es wäre nicht notwendig, die Geschlechterdifferenz aufzulösen, wenn sie viel weiter geht als die mütterliche vs. väterliche Rolle, die ein bestimmtes bürgerliches Dreieck „Vater/Mutter/Kind“ der westlichen Länder einnehmen würde.

    „What will comprise the masculine and feminine genders and their articulations in a world where the asymmetric of the sexes in reproduction will have disappeared?“ (Atlan 2005: 350)
     

    Die Simulation der generativen Bildungskraft

    Beim Titel „Mother Machine“ weiß man bzw. ich nicht genau, welche Simulation gemeint ist: die der Mutter – nämlich die der äußeren (allo)mütterlichen Instanz – oder die der Gebärmutter – nämlich ein dem Körper der Mutter innerlicher ontogenetischer Prozess.

    Die Simulation der Gebärmutter und der Mutter sind sehr unterschiedliche Dinge. Tatsächlich bezieht Atlan sich auf die Simulation der Gebärmutter, d.h. auf die Simulation einer ökologischen Nische, die in der Welt nicht entäußert ist. Aber er verweist kaum auf den radikalen ontologischen Unterschied zwischen den beiden, nämlich auf das unterschiedliche Verhältnis, das sie jeweils zur Welt haben. Insofern die Mutter ein in der Welt befindliches Wesen ist, ist der Uterus ein inneres Organ im Körper der Mutter, in dem die Morphogenese des Embryos stattfindet. Die Simulation einer mütterlichen Maschine wäre eigentlich das Abbild bzw. die Kopie eines Wesens, das mütterliche Eigenschaften besitzt und ausführt. Die Simulation einer Nische, die aber innerlich im Körper der Mutter existiert, mit ontogenetischen Eigenschaften, wäre eine Simulation zweiter Ordnung: erstens die Erfindung einer aus dem Körper der Mutter externalisierten und entäußerten Bildungsmaschine und zweitens die einer Maschine, die Ontogenese und Morphogenese ausführt.

    Atlan selbst widmete sich wissenschaftlich dem Bildungstrieb. Als Autor und Erforscher der Selbstorganisation sowohl in organischen als auch in anorganischen und technischen Systemen plädierte er dafür, die Organisation eines Systems, d.h. die Organisation der Strukturen eines bestimmten Systems, sei es organisch oder nicht, sei informationell. Sie ist eine Eigenschaft, die alle Systeme besitzen, sofern sie mit einem Außen in Wechselwirkung stehen und ein Austausch von Energie und Materie stattfindet, während Information um ihrer selbst willen erzeugt wird. Je nachdem, wie viel Energie abgeführt oder vergeudet wird und wie groß die Fähigkeit und die Kapazität des Individuums sind, Arbeit zu verrichten oder Informationen aufzunehmen, laufen unterschiedliche Organisationsprozesse ab.

    Aber ist die Gebärmutter ein selbstorganisierender Körper, par excellence, simulierbar? Ist die negative Entropie ein simulierbarer Entstehungsmotor?

    Als die Alchemist*innen sich daran machten, das Leben zu simulieren, versuchten sie in Wirklichkeit,
    das zu überwinden, was die Naturwissenschaften später als 2. Hauptsatz der Thermodynamik bezeichneten, den Ludwig Boltzmann und andere ebenso zu überwinden trachteten. In der Geschichte der technischen Utopien und vor allem in der literarischen Geschichte der Science Fiction hat man sich nie vorstellen können, das zweite Gesetz der Thermodynamik zu überwinden, ohne eine dritte Art, ein drittes Geschlecht zu postulieren.

    Eine Womb Machine würde also nicht die Geschlechterdifferenz aufheben, sondern allenfalls die Asymmetrie zweier Geschlechter durch die Schaffung eines dritten Geschlechts ausgleichen.

  • SUB-ENSEMBLE: PHILOSOPHICAL COURAGE

    SUB-ENSEMBLE: PHILOSOPHICAL COURAGE

    Seit dem letzten Beitrag über die Geontologie von Elisabeth von Povinelli habe ich nichts mehr geschrieben.

    Teilweise liegt dies an der intensiven Befassung mit meinem Buchprojekt über die Kontingenz der Ordnung, anhand einer Reise über Entropie, die Zeit, die vergeht ohne wiederzukehren, und die Unordnung verursacht oder die Unvollständigkeit des Wissens offenbart. Tatsächlich ist dies eine Gelegenheit, das Blogprojekt zu unterbrechen. Es war mehr als eine Pause, es war eine Atempause. Zu welchem Zweck? Über den Sinn des philosophischen Schreibens nachzudenken. Warum? Weil im Kontext der Akademie und der Wissenschaftsproduktion, wenn Wissenschaft immer positiver gedacht und praktiziert wird, immer wieder die Frage gestellt wird, ob es überhaupt noch einen Rahmen für philosophisches Denken geben wird. Ich will nicht dem Ende des Denkens das Wort reden, aber der Drang und der Durst danach werden leicht durch die positivistische Wissenschaft, durch den metaphysischen Dogmatismus erstickt. Denken, wozu? Es klingt, als sei das Denken viel zu anstrengend, auch für die WissenschaftlerInnen, sodass sie lieber die Maschinen es berechnen lassen. Außerdem sei die Muse des Denkens so nutzlos, dass man heute keine Zeit mehr habe, sich ihr zu widmen. Ich nehme an, dass es viel Theorie gibt, auch angewandte Philosophie. Aber die spekulativen Denkrichtungen sind Wege, die von den akademischen wissenschaftlichen Forschungsrichtungen immer ausgeschlossen werden, weil sie nicht in der Lage sind, die positive Kraft der Wissenschaft zu erfüllen. Außerhalb des Verständigungsrahmens des etablierten Wissens zu denken und über das Unbekannte zu sprechen, dieses Paradoxon, in dem sich die Philosophie immer bewegt hat, ist heute die Kunst.


    Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, an dem dieser Blog begann. Für den ersten Eintrag habe ich einen paraphysischen Text geschrieben. Er sollte den Blog einweihen und man sollte wissen, worum es geht. Ich wollte keine Erklärung geben, sondern es den Augen der Leserinnen und Leser überlassen. Die aus Wörtern zusammengesetzte Gedankencollage diente freilich einem konkreten Versuch: die Züge loser Stücke wiederzufinden, also scheinbar Verpasstes, Verlorenes, Vergangenes, Unwiederbringliches wiederzugewinnen.

    SUB-ENSEMBLE: PHILOSOPHICAL COURAGE

    Eines Tages fragte die Dame von Amboto, einer Göttin, die auf einem Berg im Nordwesten der iberischen Halbinsel lebte und Mari hieß, wo ihre Gefährtinnen seien. Die Ortsangabe ist nicht so wichtig wie ihr Vorhaben: Sie begaben sich auf die Suche nach dem Nichts (ezaren bila). Die Gefährtinnen der Göttin Mari gingen auf die Suche nach dem Nichts, nach dem, was einem genommen worden war.

    Ein Hirte sollte 100 Schafe haben, von denen er eines Tages nur noch 90 hatte. Die Gefährtinnen machten sich auf die Suche nach den fehlenden 10 Schafen. Sucherinnen des Verlorenen, Siegerinnen des Verstoßenen, Bejaherinnen der Einheit sind die Gefährtinnen Maris. Wir haben sie benutzt, um den Überbleibseln jenes Umbruchs eine Stimme zu geben, all denen, die auf dem Weg verloren gegangen sind, die zurückgewiesen, ignoriert oder nicht gehört wurden.

    Verstümmelte Stücke, lose Teile, verlorene Partikel, wo sind die fehlenden 10 Schafe?

    Brocken sind zerbrochene Stücke. Lose Teile zeugen von einem verlorenen Zusammenhang. Zeichen eines abwesenden Objekts, jeder lose Brocken zeugt von einem Bruch. Er ist ein Rest, kein Gegenstand. In den rohen Stücken, den Partikeln eines zerbrochenen Zusammenhangs, lässt sich etwas Unvollständiges erkennen. Bruchstücke wollen nicht die Wahrheit sagen. Sie bleiben stumm in ihrer Unvollkommenheit, Teil einer verlorenen Geschichte und Zeuge einer Verneinung. Ein Brocken ist, wie jedes zerbrochene Stück, ein Zeichen dieses Bruchs. Abbrüche und Brüche sind Zeichen eines verlorenen Zusammenhangs. Wenn der Gegenstand des Zeichens abwesend ist, kommen die Gefährtinnen, um ihn zu jagen. Nur dann kann man den abwesenden Objekten auf die Spur kommen.

    Dieser Blog wird jedem Brocken, der für sich und bei dir steht, seine Stimme geben. Wir wollen die Ohren öffnen und uns auf die Resonanz unselbstständiger Zeichen, unvollendeter Denkmuster einlassen. Wir wollen nicht mehr sehen, wir vertrauen der Unmittelbarkeit sinnlicher Gewissheit. Diese ist ein Raum der paroles, wo das Herz die Stimme nachholt und sie im Vordergrund des Schreibers steht. Logo-Dilexie, Logo-Aphasie; eine Disruption der Wahrnehmung in der Sprache. Das Nichts-Sagen-Können wird hier durch Alles-Wahrnehmen-Können ersetzt. Ein Behälter von Brocken jeder Art. Von einem Podcast über ein Bild bis zu einer Zeile. Interviews, Essays, Kommentare, Bild-Kommentare, Ereignis-Kommentare, Kommentare über Kommentare, Text von Texten, Stimme von Stimmen. Apokryphen, vergessene Stimmen, verbrannte Körper; ein Schlachtruf gegen das Schweigen, gegen die Verschämtheit.

    Sub- ist noch kein Teil, es ist ein Anschlussteil

    Ein unselbstständiges Stück, da ihm ohne Anschlüsse an Worte keine Bedeutung beigemessen wird. Ein selbstständiger Brocken als ein in sich vor dem folgenden Wort mehrdeutiger Trägerpotenzieller Bedeutungen. Eine Ode an die Autonomie und dafür, voneinander unabhängig zu bleiben. Sub- befindet sich im Regime der Möglichkeiten der Potenz.(Sub)Ensemble: Kreislauf von Anschlüssen und Bindungen. Jedes Stück istnotwendigerweise angeschlossen; jedes bleibt aber unabhängig von den anderen. DieStücke werden nicht im Prozess der rekursiven Kausalität dem Ganzen unterworfen,sie bleiben unabhängig voneinander.Sub- steht für eine Tiefe. Eine Tiefe in der Dimension einer Struktur. Sub- ist demBlick des Beobachters entzogen. Die Tiefe ist unsichtbar, man nennt diese Sub-, mansieht sie aber nicht.

    Keine Extraktion! Ist das epistemische Lemma.

    Sub- bleiben voneinander unabhängig, aneinander angebunden; sub-irdisch, sub-bewusst; sub-somatisch.


    Der Blog war und ist ein Sammelbecken für Buchbesprechungen, Kommentare, Interviews etc. Aber der ursprüngliche Anspruch bleibt, Spuren zu lesen, Spuren von Geschichten, die nicht verloren gegangen sind, wieder aufzuschreiben. Das Verleugnete, das Geraubte, das Fehlende, das Verlorene, das nicht Wiederkehrende sind nicht verschwunden. Es kehrt zurück in der Differenz der Differenz. In anderer Form, in anderer Gestalt, in anderer Erscheinung, wiederkehrend. Es geht hier nicht um den Widerstand gegen den Verlust. Es geht vielmehr darum, die Erwiderung jenes Verlusts in Anspruch zu nehmen.

  • EIN REQUIEM AUF DEN SPÄTLIBERALISMUS, wenn man denn eine Trauerfeier würdigen will.

    EIN REQUIEM AUF DEN SPÄTLIBERALISMUS, wenn man denn eine Trauerfeier würdigen will.

    Beim Lesen des fast 320 Seiten dicken Buchs „Geontologien: Ein Requiem auf den Spätliberalismus“ freut man sich über ausführliche Gedanken zur Ontologie der Erde. Man freut sich über eine Seinsgeschichte der Erde, denn diese wurde zugunsten der Rechtsordnung des Himmelsgottes Zeus herabgewürdigt. Man erfreut sich an der Geschichte der Erde, deren Töne nicht im Widerhall des Himmels nachklingen (die Erde tönt, gestimmt in das „Echo des Himmels“). Man freut sich über das Anhören ihrer Geschichte, geschrieben nach ihren Gesetzen, welchen sie untersteht, von denen der Puls Persephones sowie die in die Unterwelt Nachgeschickten zeugen, die aus dem Reich des Himmels ins Herz der Erde vertrieben wurden.

    Die amerikanische Anthropologin Elizabeth Povinelli erzählt in ihrem 2016 auf Englisch veröffentlichten Buch „Geontologies: A Requiem to Late Liberalism“ über die Ontologie des Nicht-Lebens (Geo-Ontologie) und über ihre Machtformen. Die Geschichte der Erde kommt nicht zur Sprache, wohl aber die Offenbarung der Gesetze der Erde über die Welt, die der Spätliberalismus als drohende Machtformen artikuliert. Beschreibt man die Erde als die verborgene Falte – ein Faden in Heideggers Technikphilosophie –, die durch das Werk die Welt eröffnet, dann spricht „Geontologien“ von den Offenbarungstechniken (des Spätliberalismus), mittels derer sich die Erde entschleiert. Durch Extraktion, Explotation, Enteignung und Deterritorialisierung tritt die Erde in die Welt und öffnet sich für sie.

    Geontologie & Geomacht

    Povinelli verwendet Geo als Ausdruck für Nicht-Leben. Diese Gleichsetzung wird nicht erklärt. Allerdings geht man intuitiv von der Verbindung zwischen den nicht organischen Strukturen (vor allem Rohstoffe) und dem Nicht-Leben aus. Diese Gleichsetzung erfordert aber einen Unterschied von Leben und Nicht-Leben. Geo soll auf diese Differenz antworten, und deshalb soll laut Povinelli die Differenz zwischen Leben und Nicht-Leben erhalten bleiben.

    „Geontologien, sowie die Geomachten, sind nicht die Ontologie des Nicht-Lebens, sondern die Ontologie, die aus der Differenz Leben/Nicht-Leben zu artikulieren sind, sowie die Machtformen, die aus der Differenz Leben und Nicht-Leben konstituieren“ (S. 65).

    Aus dieser Sicht ist der Erde keine organische Eigenschaft beizumessen, im Gegensatz zur Gaia-Hypothese, die den Planet Erde als einen Organismus, der sich selbst reguliert und aufrechterhält, postulierte. Povinelli bezeichnet das Nicht-Leben als Existenz- und Machtform, auf der die Logik des Spätkapitalismus beruht.

    Biopolitik: Wenn die Negation des Lebens nicht Nicht-Leben heißt.

    Foucaults Begriff Biopolitik hat den Schleier von den Machtstrukturen der modernen Gesellschaften weggezogen. Die Macht konstituiert sich in der Form der Aufrechterhaltung des Lebens (Bios), und sie trägt die Kosten der Negation des Todes, was eigentlich eine Unmöglichkeit ist. Soziale Dispositive werden dafür zuständig, die Individualisierungsprozesse gegen jeden Ausdruck des Todes zu schützen, auf Kosten einer Gesellschaft, deren Normen ausschließlich für die Verweigerung des Todes stehen. Die Bestätigung des Lebens über die Negation des Todes, wenn der Tod selbst ein Teil des Lebens ist, ist weniger eine Paradoxie als ein Bestandteil einer libidinösen Struktur, deren Institutionalisierung der Psychoanalyse zu verdanken ist: Wenn sich das Begehren (Eros) in zwei diametral entgegengesetzte Kräfte teilt, nämlich Lebenstrieb vs. Todestrieb, bleibt dem Ich nur übrig, sich für die Negation des Todestriebs zugunsten eines gesunden Körpers und einer gesunden Psyche einzusetzen.

    Als die Psychoanalyse den Todestrieb sowohl für körperliche als auch für geistige Erkrankungen verantwortlich machte, war es die Pflicht sozialer Institutionen (Schule, medizinische Einrichtungen etc.), die Gesellschaft gegen den Tod zu wappnen anstatt für ihr Leben zu sorgen. Doch diese Täuschung und die in ihr verborgenen Machtstrukturen hat Foucault entschleiert. Biopolitik ist der markanteste Terminus, der die Machtstrukturen, auf denen das Leben aufgebaut ist, bezeichnet: Das Leben, das den Tod als Teil des Lebens aufnehmen soll, spielt gegen ihn. Ergo: Die Politik über das Leben spielt gegen das Leben, denn der Tod hat am Leben teil. Ich wiederhole: Im Umkehrschluss heißt dies, dass das Leben gegen sich selbst vorgeht.

    Povinelli zeigt zugleich, dass diese Debatte schon längst eine Tradition in der Philosophie begründet hat. Beispiele dafür sind der von Hannah Arendt beklagte Eingriff des liberalen Staates in die Privatsphäre oder Canguilhems epistemologische Analyse der Gesetze des Normalen in den sozialen Institutionen. Ebenso zeigt die Autorin die Fruchtbarkeit der Machtanalyse Foucaults. Die These, dass eine auf der Negation des Lebens beruhende politische Praxis eine Gesellschaftsform der Affirmation des Todes modelliert hat, hat riesige Zustimmung gefunden. Der Terminus Inmunität wurde als die Spitze einer Erweiterung der biopolitischen Machtform begriffen. Von Agamben über Esposito und Derrida bis zu Donna Harawey kann man den roten Faden ziehen, dass den Tod schützende Techniken die Vernichtung des Lebens verursachen können, deren Ausdrucksform nicht der Tod ist, sondern die den Tod in einer leblosen latenten Lebensform aufzeigen. Darüber hinaus hat sich die auf dem Leben beruhende Politik in mehrere Formen der Machtstrukturen ausdifferenziert:

    „Biopolitik hat zahlreiche Neologismen hervorgebracht (…) wie Thanatopolitik, Nekropolitik, etc.“ (S. 14).

    Povinelli erkennt sämtliche Machtstrukturen und Existenzformen, welche der Dialektik Leben vs. Tod zugeordnet sind. Allerdings ergreifen die gegenwärtigen Machtformen eine über den Tod hinaus organisierte Form des Lebens, nämlich das Nicht-Leben.

    Povinellis Beitrag besagt, dass der späte Liberalismus über den Bios hinaus in eine Sphäre des Lebens greift, die nicht dem Tod entgegengesetzt ist, sondern dem Nicht-Leben. Sie entscheidet sich für die Begriffe Geontologie und Geomacht, weil sie feststellt, dass

    „die gegensätzlichen Komponenten Nicht-Leben (geo) und Sein (Ontologie), zurzeit in der spätliberalen Gouvernante der Differenz und der Marke im Spiel sind“ (S. 17).

    Die Geomacht stellt wie erwähnt eine Kombination von Diskursen, Affekten und Taktiken dar, die im Spätliberalismus eingesetzt werden und die Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben erhalten. Diese Macht ist aber nicht neu, sagt Povinelli, sie ist tief in der Verfahrensweise der Biomacht verwurzelt – über stochastische Abläufe spezifischer Algorithmen und Experimente in den sozialen Medien.

    Leben vs. Nicht-Leben: Die Erweiterung der Gattung (genos) Leben.

    Indem Povinelli die Machtstruktur des Spätliberalismus auf die Achse Leben und dessen Negation, Nicht-Leben, stellt, erweitert sie die biopolitische Dialektik auf einer übergeordneten Ebene: Das Leben (es beinhaltet sowohl das Leben als auch den Tod) vs. Nicht-Leben.

    „Das ist das Schema, das sich jetzt abzeichnet: Leben (Leben – Geburt, Wachstum, Fortpflanzung – vs. Tod) vs. Nicht-Leben“ (S. 23).

    Leben wird laut diesem taxonomischen Schema die Gattung (genos) sein, die Bios und Tod enthält. Ihr steht, laut einer zweiwertigen Klassik, deren Negation entgegen, das Nicht-Leben. Diese logische Methode der Taxonomie ist so alt wie die platonische Diharesis, nach der die Verallgemeinerungen und Unterschiede auf der Identitätslogik Leben = Leben beruhen.

    Eine Ausdehnung der Kategorie des Lebens (das sowohl Leben als auch Tod beinhaltet), die dem Nicht-Leben gegenübersteht, soll Povinelli die Möglichkeit geben, eine kritische Sprache zu finden,

    „mit der sich der Moment erfassen lässt, in dem eine Machtform, die in bestimmten Regimen des Siedler-Spätliberalismus seit langem selbstverständlich ist, weltweit zutage tritt“ (S. 17).

    Der Auslöser Anthropozän

    Eine auslösende Evidenz für die Ausdehnung der Gattung der Lebensordnung ist laut Povinelli das Anthropozän. Natürlich wird diese Trennung vom kapitalistischen Liberalismus vorangetrieben, doch ist das Anthropozän der Beweis einer neuen Organisation von Macht, die den Rahmen des Lebens, über den Tod hinaus, nun vom Nicht-Leben abgrenzt.

    Unter mehreren Quellen, die den Namen Anthropozän tragen, ist der geologische Hinweis für Povinellis Geontologie ausschlaggebend: Auf einmal war wissenschaftlich nachgeprüft und nachgewiesen, dass die Menschheit nicht zu den Tieren zählt, sondern sich als eine einzigartige Gattung, die den Planeten Erde bewohnt, in Wechselwirkung mit einer mineralischen Zusammenstellung herausgebildet hat. Im Anthropozän liegen genügend Nachweise für die geochemische Koppelung zwischen Mensch und Erde vor, da der Mensch sich in seinem anthropotechnischen Wesen ebenfalls herausgebildet hat.

    Das Leben kann sich nicht mehr aus der Koppelung von geo, bio und technischen Komponenten ergeben.

    Geomacht ist die Form des Spätliberalismus, denn sie ist die Macht über das Nicht-Leben. Die Macht drückt sich in Formen aus, in denen das Nicht-Leben als die Negation des Lebens bestätigt wird. Die Affirmation des Lebens leitet sich aus der Negation des Nicht-Lebens her: ein einfaches tautologisches Kalkül. Laut dieser Differenz sind die nicht-organisch strukturierten Wesensformen von ihrer Existenz enteignet.

    Povinelli veranschaulicht die Geomacht über die Ontologie des Nicht-Lebens mittels dreier Figuren. Sie will die Täuschung aufzeigen, dass die Anorganizität des Rohstoffs doch eine Existenzform besitzt.  Diese drei Formen sind drei Topologien, drei Vorbilder einer Machtform über das Nicht-Leben: Die Wüste, die Animistin und Viren. Die Wüste sei das Plateau der Extraktion, der Vertreibungen und somit der Löschung jeder Art von Signifikanten, die eine Teilhabe an einer territorialen Gebundenheit zeigt.

    Über die Existenzformen des Nicht-Lebens: Eine Paradoxie?

    Geontologie stellt eine Paradoxie dar, welche die naturwissenschaftliche Taxonomie leugnete, nämlich die klassische Dichotomie zwischen organisch und nicht organisch strukturierten Wesen, die Differenz zwischen Bios und Geo. Diese affirmiert die Existenzformen des Nicht-Lebens. Welche sind die Arten, die das Nicht-Leben umfasst? Stoffe, Röcke, Knochen, Fossilien etc. Die leblosen Stoffe, die anorganische Materie sind mit dem Bios verbunden. In dieser Koppelung kommen neue Ordnungen zustande.

    Die Affirmation der Existenz des Nicht-Lebens führt zu einer zweiten Frage: Welche sind dann ihre Normen? Auf welcher normativen Ebene beruhen sie? Elizabeth Povinelli ist natürlich auf die Normativität des Nicht-Lebens eingegangen, weil die Machtformen des Nicht-Lebens den roten Faden ihres Buches bilden. Im Rahmen der Materialismusdebatte (neuer Materialismus, spekulativer Materialismus, spekulativer Realismus und objektorientierte Theorie) sucht sie ebenso Lösungen dafür wie die kritische Theorie der letzten Jahre. Mit der Materialismusdebatte ist Kants Korrelation zwischen dem Denken und dem Sein zerbrochen: Es gibt Existenzformen, die denkbar, aber nicht erkennbar sind und umgekehrt. So fruchtbar und sinnvoll die Debatte des Neuen Materialismus für die Findung anderer Existenzformen ist, die nicht die Mensch-Welt-Beziehung als Mittelpunkt haben, so scheint für Povinelli die Materialismusdebatte nicht die einzige zu sein, die sich mit der Frage der Normativität des Nicht-Lebens befasst. Vielleicht weil die Ordnung des Nicht-Lebens nicht dem gleicht, das die Negation des Todes reguliert hat. Die Ordnung des Nicht-Lebens steht in einer Wechselwirkung mit einer immer noch offenen Umwelt, deren Bildung eine Menge Unordnung verursacht.

  • Du bist nicht von deiner Mutter gelesen. Sie spricht weder noch liest Derridianisch.

    Du bist nicht von deiner Mutter gelesen. Sie spricht weder noch liest Derridianisch.

    Die sexuelle Differenz lesen von Hélène Cixous, Jacques Derrida. Übersetzt und mit einem Essay versehen von Claudia Simma. Turia + Kant, Wien/Berlin 2023.

    Hélène Cixous hat Angst

    „Ich habe Angst“ (…) „Die Frage beziehungsweise Angst, diese ‚Geschichte‘ der „sexuellen Differenz“ (S. 12).

    Hélène Cixous hat Angst. Sie ergreift das Wort (S. 9). Im Innersten ist sie gerührt. Sie sitzt in einem Saal, um über die sexuelle Differenz zu sprechen, über einen erzählten Traum, der den Titel Fourmis trägt, für den Jacques Derrida das Wort ergreift.

    Das Buch „Die sexuelle Differenz lesen“ enthält zwei Vorträge, die im Rahmen eines Kolloquiums des Collège International de Philosophie gemeinsam mit dem Centre d’Études Fémenines de l’Université Paris-VIII in Paris vom 18. bis 20.10.1990 gehalten wurden. Sie wurden 1994 publiziert und 2023 hat der Verlag Turia + Kant sie unter dem Titel „Sexuelle Differenz lesen“ erneut veröffentlicht. Claudia Simma, die Übersetzerin der gemeinsam verfassten Rede, schrieb das Nachwort, in dem sie die sexuelle Differenz liest, welche Cixous liest, die Derrida liest.

    Wovor hat Hélène Angst? Wenn sie das Wort ergreift, ist sie von der Unheimlichkeit der sexuellen Differenz ergriffen. Ja, sie ist ihr sehr vertraut, sogar „extrem vertraut“ (S. 14). Heimlich und zugleich „zu fremd“ (S. 14) ist ihr die sexuelle Differenz. Sie spricht als Frau und als Frau kennt sie die sexuelle Differenz sehr gut; „wir als Frauen kennen sie gut“ (S. 14). Doch bleibt sie ihr und uns immer noch unbekannt (S. 14).

    Wenn sie das Wort ergreift, ist sie von Angst ergriffen. Angst bricht den Diskurs ab, und um ihr zu entrinnen, muss sie einen anderen Weg als die Ansprache finden, um darüber zu sprechen, was sie vom Reden abhält. Weder die wissenschaftliche Diskussion der Klassifizierung von Geschlechtern noch die epistemologische Kritik an der Anordnung von Arten sind die Auslöser einer solchen Beklemmung. Was ist die Geschichte der sexuellen Differenz? Ist sie vielleicht doch ein Märchen? (S. 12)

    Welche ist dann diese Geschichte?

    …Sie ist die Geschichte der Lesbarkeit

    Die Geschichte der sexuellen Differenz ist die Geschichte ihrer Lesbarkeit. Es geht um die Lesbarkeit der sexuellen Differenz, nicht aber deren Schreibbarkeit. Sie ist gelesen. Das ist der Appel, um welchen das indirekte Gespräch zwischen Hélène Cixous, Jacques Derrida und Claudia Simm kreist.

    Durch die sexuelle Differenz ist die Differenz zu lesen. Diese Aussage irritiert so sehr, dass man sofort an den Ursprung der Lesbarkeit denkt und sich weitere Fragen stellt: Wie wurde sie geschrieben? Wurde sie aufgeschrieben? Wer hat sie geschrieben? Gleicht nicht aber die Geschichte des Lesens der Geschichte des Schreibens?

    Es gibt kein Lesen ohne Schrift. Das Lesen ist eine Entzifferung dessen, was aufgeschrieben ist. Mit oder ohne Anspruch zu verstehen, was verschriftlicht ist, ist die Lesbarkeit der Auslegung dessen, was aufgeschrieben ist, vorausgesetzt. Im Umkehrschluss setzt die Schrift das Lesen voraus. Das Lesen markiert die Sinndeutung dessen, was geschrieben ist, indem das Geschriebene den Sinnhorizont öffnet. Die Hermeneutik des Lesens beruht in dieser Hinsicht auf der zirkulären Logik, welche sie einschließt: Das Lesen setzt die Schrift voraus, die Schrift ist die Markierung einer Differenz beim Lesen. Ohne Lesbarkeit gibt es kein Schreiben, ohne Schreiben ist nichts zu lesen. Das macht allerdings den Zugang zum Ursprung des Lesens schwer: Sich des Ursprungs der Lesbarkeit zu begeben, bringt nichts mehr, als die Geschlossenheit des Kreislaufs zu begehen: kein Lesen ohne Schreiben. Kein Schreiben ohne Lesen.

    Derrida hatte schon das Problem des Zirkelschlusses Lesen/Schreiben geschildert, als er Platon, der der Schrift die Qualität eines pharmakons zuschrieb, ausführlich kommentierte. Die Schrift kündigt das Ende der mündlichen Überlieferung göttlicher Botschaften an, als Philosophie und Dichtung immer noch zusammengehörten und diese in Form von Dialogen aufgeschrieben wurden. Botschaften, die von Göttern vermittelt wurden, werden nicht von Mund zu Mund übermittelt, sondern sie werden aufgeschrieben. Die Schrift ist ein pharmakon, eine Technik, mittels derer die Aufbewahrung von Botschaften auf die Materialität eines Trägermediums übertragen wird. Ein Heilmittel, sofern die Schrift dazu beiträgt, die Mitteilungen massiv zu verbreiten; giftig, sofern man sich nicht mehr bemüht, diese im Speicher der Seele zu bewahren. Dann ist der Teufelskreis der bedingten Wechselwirkung erfolgt: keine Schrift ohne deren Lesbarkeit.

    Die Paradoxie des hermeneutischen Kreises des Lesens, die Derrida anhand des Textes Platons behandelte, setzt eine Asymmetrie voraus. Lesen/Schreiben verstricken sich im Circulus vitiosus der Bedingtheit, weil ein und dasselbe nicht dasselbe sind. Das heißt, das Gelesene stimmt nicht mit dem Geschriebenen eins zu eins überein. Beide berühren sich, Lesen und Schreiben. Sie sind dasselbe, sofern das Gelesene das Geschriebene ist, doch das Gelesene nicht durch das Geschriebene ersetzt werden kann, folglich sind sie doch nicht dasselbe. Der Ausweg aus dieser Paradoxie ist die Übersetzung. Die Lesbarkeit der sexuellen Differenz hängt ab vom Widerstand ihres eigenen Ersetzens Wort durch Wort.

    Es handelt sich hier nicht darum, ob die Bedeutung des einen die Bedeutung des anderen ersetzen kann. Es geht um eine Transduktion, in den Worten von Michel Serres. Denn jede Übersetzung zeigt die Unmöglichkeit des vollständigen Ersetzens, nämlich eines Wortes durch ein anderes Wort, eines Ausdrucks durch einen anderen. Ein vollständiges „Setzen“ oder „Ersetzen“, scheint unmöglich (S. 50).

    …oder eine der Übersetzung

    Wenn Cixous und Derrida sich ans Lesen der sexuellen Differenz wagen, wagen sie deren Übersetzung und die Lesbarkeit der Übersetzung. Die sexuelle Differenz lässt sich lesen, was bedeutet, sie ist eine übersetzte und übersetzbare Differenz. Denn das Ersetzen „von einer Seite zu einer anderen Seite der sexuellen Differenz“ scheint ein misslungenes Kalkül zu sein, denn in der sexuellen Differenz gibt es keine Äquivalenz zwischen den Geschlechtern, da ihr, wie jeder Übersetzung, eine Asymmetrie zugrunde liegt. Jede Seite der sexuellen Differenz ist etwas Einzigartiges, das unersetzbar zu sein scheint.

    „Durch Übersetzen ersetzen scheint möglich. Ebenso wie das Übersetzen von einer zu einer anderen Seite der sexuellen Differenz, und auch das Übersetzen dessen, was man etwas Einsames, Besonderes oder Einzigartiges nennt“ (S. 50)

    Dass es keine sexuelle Differenz mehr gibt als eine solche, die sich übersetzen lässt, unterstreicht die anfängliche These, laut der die sexuelle Differenz eine der Lesbarkeit ist:

    „‚Lesen der sexuellen Differenz‘, das also war der Titel (…) Auch wenn die sexuelle Differenz sich so den Lesarten öffnet, ist sie doch nie von vornherein und durch und durch, de part en part sichtbar. Sie ergibt sich dem Sehen, voir nicht (…), sie gibt sich nur zu lesen“ (S. 79).

    Worte sind keine Erfindungen, sie sind Spuren einer Übersetzung, die man liest und die die Unmöglichkeit eines Ersetzens aufzeigt. Sie sind die Differenz. Worte sind dann Spuren, die man liest, und diese Spuren markieren die sexuelle Differenz.

    „ (…) das ist meine Hypothese, sobald es sexuelle Differenz gibt, gibt es Wörter oder vielmehr Spuren zu lesen. Damit und dadurch beginnt sie. Es mag Spuren ohne sexuelle Differenz geben, zum Beispiel im Falle von nicht sexuiertem, von ungeschlechtlichem  Leben, aber es kann sexuelle Differenz nicht ohne Spuren geben“ (S. 55).

    Das heißt, die Differenz ist im Lesen, dessen Markierung verhüllt und verborgen bleibt. Es ist die Markierung im Körper, die die Schrift gelesen hat. Die Differenz ist weder ontologisch noch epistemologisch, sondern medial und technisch: Es geht um die Lesbarkeit der Differenz.

    Arithmetik der Zwei

    Signatur und Herum-Geschnitten (Zirkumzision) : Derrida als Mann

    Hélène Cixous ergreift das Wort. Sie spricht von einem Bevor, einem Bevor vor dem Lesen: die Signatur. Sie ist in die Materie eingraviert. Verzierungen im Fleisch werden eingeschnitten, bevor man sie überhaupt lesen kann. In der Fläche des Körpers tritt zunächst die Asymmetrie der Information auf.

    „Dieser Körper, dein Körper, denn dein Text ist beständig körperlich, ist signiert, auf unzählige Arten und Weisen signiert, die ganz Zeit geht es um die Signatur, das Unterzeichnen, die Unterschrift“ (S. 16-17).

    Man lernt selbige Signaturen zu entziffern, man lernt die Markierung zu lesen, um sich von anderen zu unterscheiden, in einer Art von Erfindung der Selbst-Identität und der Bestätigung einer Trennung, eines séparement zwischen Ich-Selbst und den anderen. Dann beginnt die hermeneutische Rückschleife ablesen/aufzeichnen. Das Ablesen von aufgezeichneten Spuren, das zum Schreiben führt, sei der Anfang eines Schreibens, das kein Ende mehr hat, als aufzuhören zu lesen.

    Hélène Cixous beginnt mit dem Körper Jacques Derridas. „Du bist (Zirkum)Beschnitten, sage ich, also beginne ich am Körper“ (S. 16). Sie erzählt die Geschichte der Gravierung und des Schnitts in der Männlichkeit, ein Beschnitten-Sein (S. 17), eine Signatur, deren Lesbarkeit die sexuelle Differenz in der Männlichkeit und der Männlichkeit ist. Laut Cixous liest die sexuelle Differenz um die Signatur herum, bei welcher das umgehenden Schreiben Derridas seinen Anfang hat.

     „(…) und das alles vor ihm und an ihm, dieses eigenschnitzten Schreibens noch bevor er lesen konnte ja, das ist dieses (Zirkum)Beschnitten-Sein und dieses (zirkum)beschnittene Wesen“ (S. 16).

    Das eigenschnitzten Schreiben spricht von einem nicht wiedergewonnenen Verlust. „Ist diese Geschichte des (Zirkum)Beschnitten-Seins ein Zug der Männlichkeit?“ (S. 17), fragt sich Cioux.

    Die Geschlechtsdifferenz beginnt mit Gott

    Hélène meinte, dass die sexuelle Differenz im Körper signiert ist. Die erste Differenz ist das Lesen einer Geschlechtertrennung, die über eine Signatur eines Schnittes in der Fläche des Körpers abzulesen ist. Die allererste Geschlechterdifferenz ist zwischen dem Vater und dem Sohn festgelegt. Diese Differenz ist eine der Gattung, des Geschlechts.

    Geschlecht ist ein Ordnungsbegriff, ein Begriff der Klassifikation. Geschlecht heißt Gattung und betrifft eine Gruppe oder Menge von Elementen, die ein Merkmal teilen bzw. das gleiche Merkmal haben. Differenzen werden nach ähnlichen Merkmalen in Gattungen gruppiert, während die Arten auf den Unterschieden ihrer spezifischen Wesenheit oder Begriffsbestimmung beruhen. Eine Gattung unterscheidet sich von einer anderen Gattung durch ihre konträren Verhältnisse. Lebewesen ist jene Gattung, die alle lebenden Systeme einschließt, trotz spezifischer Differenzen, wie eine Blume oder ein Mensch. Sie steht aber in einem entgegengesetzten Verhältnis dem Nicht-Lebewesen gegenüber, wie die anorganische Materie. Wenn die sexuelle Differenz durch ein Gotteswort signiert ist, spricht man von einer Differenz der Gattung, zwischen dem Gott und dem, was nicht Gott ist, wie dessen Kreaturen. Dem Gott-Vater misst man die Eigenschaften des Unsterblichen, Vollständigsten bei. Ihm setzt man dessen Negation entgegen: die Menge seiner Kreaturen, die Unvollständigen, Sterblichen.

    Die erste lesbare sexuelle Differenz ist die Geschichte einer Markierung, welche die Unterscheidung von Göttlichem und Menschlichem trifft: der Verlust der Immanenz zugunsten eines transzendenten Gottes, indem der Gott, ein übergeordnetes Geschlecht, sich seinem Sohn entgegensetzt.

    Arithmetik der Zweiheit

    Eine beschnittene Signatur ist eine der Geschlechterdifferenz, die erste, die zwischen dem Vater und dem Sohn gesetzt wird. Gott ist der Oberbegriff. Der Vatergott, der oberste, der vollständigste, der Schöpfer steht an der Spitze einer Gattungsklassifikation. In der Sprache der Metaphysik lässt sich als die identitätslogische primäre Instanz nennen: Er ist sich selbst gleich und mit sich identisch. Seine Negation, seine konträre soll dann alles umfassen, was nicht unsterblich, nicht vollständig etc. ist und an dessen Spitze sich der Mensch-Mann befindet.

    Die sexuelle Differenz fällt in die Falle der Arithmetik der Zweiheit, weil, wie anfangs erwähnt, die beiden Seiten der sexuellen Differenz nicht ersetzbar sind, indem keine Symmetrie besteht zwischen den zwei differenzierten Teilen. Unter das, was Gott nicht ist, fällt alles, was an der Negation des Nicht-Gottes teilhat. So kommt es, dass die Geschichte der Differenz eine solche der Unterscheidung, der Beschneidung, der Trennung und der Spaltung ist. Nur in der Dialektik der Zweiheit oder in der Arithmetik der Zweiheit geschieht dies. Deswegen stellt sich Derrida die Frage, ob bei Ameisen eine Geschlechterdifferenz zu erkennen ist. Die Arithmetik der Zweiheit fehlt bei Ameisen, „frouniers“.

    Von welcher Differenz spricht die Geschichte der sexuellen Differenz? Derrida und Cioux sprechen von der sexuellen Differenz, der Lesbarkeit der Markierung des sexualisierten Geschlechts anhand der Arithmetik der Zweiheit: hier das Männliche und ihm gegenüber das Weibliche und die ausgeschlossene Dritte, weder Frau noch Mann, sondern frourniers.

    Bei der sexuellen Differenz handelt sich aber um eine Geschlechterdifferenz der zweiten Ordnung, nämlich um die Frau, die ein Mensch (nächstgelegene Gattung) ist, dessen Geschlecht nicht männlich ist (Differenz). Hélènes Verdacht lautet, dass den Frauen die sexuelle Differenz nicht vertraut ist; deswegen haben sie vor dieser Geschichte Angst.

    Dies ist eine Geschichte, die nur die Geschlechterdifferenz des Gott-Sohns betrifft. Diese Unterscheidung ist aber nur eine lesbare. Wer liest den Sohn?

    Mutter

    Derrida meint, dass es für das Unbewusste kein Geben gibt. „Für das Unbewusste oder für das reine Bewusstsein gibt es Geben nicht, Vergeben auch nicht, nur Tausch und beschränkte Ökonomie“ (S. 53). Es hängt davon ab, wo man den Beginn der zirkulären Ökonomie ansetzt, ob in der Hingabe oder in der Annahme, ob in der Gabe oder im Missbrauch. Die erste Beziehung ist eine des Missbrauchs, sagte Serres. Dies bedeutet, sie ist nur einseitig durch den Pfeil der Zeit bestimmt. Der Sohn wird im Körper der Mutter untergebracht, der Sohn, Parasit des Körpers der Mutter.

    Der Körper der Mutter gibt hin, und es handelt sich um eine Gabe, die nicht eine beigemessene Erwiderung findet. Der Ausfall eines vollkommenen Austauschs oder beschränkter Ökonomie liegt nicht, wie Derrida andeutet, in der Beschränkung der Gabe, im Gegenteil, er hat seine Ursache im Übermaß der Gabe (Saratxaga). Wieso ist es so schwer, das Geschenk der Hingabe zu akzeptieren? Das ist der Blick der Mutter. Sie ist da und sie bringt unter. Sie nimmt in Kauf, dass die Gabe nie wiedergegeben wird, sie kann nicht vollständig wiedergegeben werden. „Es gibt immer etwas, das verloren geht, es ist die Unmöglichkeit der Wiedergabe“ (S. 28).

    In einer wunderbaren Art und Weise deutet Hélène Cixous an, wie die Mutter-Sohn-Einheit das Kalkül des (Aus)Tausches bricht. Die Mutter ist eine Außenseite der ersten Signatur, des Wortes. „Die Mutter ist ihm erarbeitet“ (S. 18). Die Mutter ist ihm innerlich, nicht von ihm getrennt. Die Mutter ist dem Mann innerlich, zwischen ihnen ist dann die Trennung, die Abspaltung der Arithmetik der Zweiheit nicht vorhanden. Sie liest die sexuelle Differenz nicht. Die Mutter liest ihn nicht.

    „Der Sohn wird nicht von Mutter gelesen“ (S.27 ) (…)

    weil sie deine Sprache nicht spricht, sie spricht weder noch liest sie Derridianisch“ (S. 28).

    „Gewisse Figuren sind unterdessen wohlbekannt, da sie im Laufe der Bücher in die Lesemythologie unserer Epoche Eingang gefunden haben. (…)

    Die Mutter ist umwerfend, über die Wissenschaft der Worte hinaus prophetisch (S. 27).

    Und dann hat diese Mutter den Schlüssel zu einem entscheidenden Moment dieser ganzen Geschichte: mit ihr hast du immer und nie das letzte Wort gehabt.“ (27)

    Welche wäre dann die Ordnung des Geschlechts aus der Sicht der Mutter, aus dem Körper der Mutter; wie würden sich dann die Arten und Geschlechter einordnen?

    Die Liebe als (symbolisches) Medium der Wiedereinigung einer Séparement

    Das Weibliche und das Männliche, das Feminine und das Maskuline sind einer Geschlechterdifferenz zugeordnet, unter die manche, aber nicht alle Arten fallen. Entweder weiblich oder männlich, sagt die Arithmetik der Zweiheit, welcher Logik der ausgeschlossene Dritte zugrunde liegt. Ein Geschlecht, das zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen steht sowie an beiden teilhat, ist von der zweiwertigen Logik ausgeschlossen, sodass alle Arten, die weder das weibliche noch das männliche Geschlecht haben, von der sexuellen Differenz nicht berücksichtigt sind. Dementsprechend könnte man sagen, dass die sexuelle Differenz von einer konträren Relation spricht, sofern das Weibliche dem Männlichen entgegengesetzt und umgekehrt ist. Zwar besteht eine Komplementarität und, wie die deutsche Sprache diese Beziehung gut ausdrückt, eine gegenseitige. Die eine ist die andere Seite der anderen und umgekehrt.

    Die sexuelle Differenz spricht von der Unmöglichkeit der Synthese der komplementären Relation. Sie ist, wie Derrida feststellt, die Geschichte einer Trennung, eines séparement.

    Séparément, „einzeln, (ab)getrennt, abgeschnitten, abgesondert“, kommt diesmal ganz allein. Das Wort tritt ganz allein vor, vereinzelt, séparément. Als Wort ‚séparément‘ geht als Einzelgänger vor (….) Man kann nicht séparément lieben und man kann nur séparément lieben, in Separation oder Ungleichheit des Paars. In unendlicher, weil inkommensurabler Distanz: nie werde ich dieselbe Distanz halten (…) Unendliche Separation im Paar, couple selbst und in der Parität des Paars, paire (65)“

    Die Synthese einer konträren und zugleich gegenseitigen Relation scheint aber im Medium der Liebe möglich zu sein. Wie schon vorher bei der Geschlechterdifferenz erwähnt, ist die Einheit eine Eigentümlichkeit Gottes. Und wenn man überhaupt vom Geschlechterunterschied spricht, ist vom Göttlichen und dem, was nicht unter das Göttliche fällt, die Rede.

    Die (Rede der) sexuelle(n) Differenz hält die Absonderung der Geschlechter aufrecht. Ihre Geschichte ist nicht eine der Differenz, sondern eine, die über eine irreparable Zäsur spricht: die Unmöglichkeit der Einheitlichkeit von Geschlechtern. Eher setzt die Liebe die Dramatik der Unmöglichkeit in Gang, die eine Vereinsamung voraussetzt, die nie aufgehoben wird, solange die Liebe als Medium die Wahrscheinlichkeit einer Unmöglichkeit besitzt (Saratxaga, „Liebe: Wenn eine Möglichkeit wahrscheinlich wird“, forthcoming).

    Die Sprache der Liebe ist die Sprache, welche die Trennung entfernt. Sie zieht die Grenze der sexuellen Differenz hinaus, doch je näher die Liebe rückt, desto ferner ist das Einswerden.

    Geschlechterdifferenz ist eine Differenz der Lesbarkeit. Die Trennung ist eine der markierten Signatur im Körper. Hélène spricht von einer Geschichte, nicht von der Trennung, nicht einer solchen, die ihr Angst bereitet und die auch nicht in einer Fabel zu lesen ist oder in der Fabel Trost findet.

    „Sexuelle Differenz ist eine Fabel, beziehungsweise eine Mär“, so würde die Kopula „ist“ es ermöglichen den Satz und die Aussage umzukehren: Fabel, jede Fabel also, ist sexuelle Differenz“ (S. 52).

  • Zum Irrenhaus führt kein Irrweg

    Zum Irrenhaus führt kein Irrweg

    „Die Kinder von La Borde“ von Emmanuelle Guattari in Turia + Kant, 2021.

    Dieses autobiographisch-poetische Buch, in Frankreich 2021 als „La petite Borde“ veröffentlicht, erschien im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Die Kinder von La Borde“ im Verlag Turia und Kant. Obwohl diese Rezension ein wenig spät erscheint, hinterlasse ich hier ein paar Zeilen über ein wunderschönes Testament eines freien Sozialisationsspiels außerhalb des bürgerlichen Dreiecks (Vater/Mutter/Kind) und innerhalb einer chaosmotischen Ordnung.

    Dieses autobiographisch-poetische Buch, in Frankreich 2021 als „La petite Borde“ veröffentlicht, erschien im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Die Kinder von La Borde“ im Verlag Turia und Kant. Obwohl diese Rezension ein wenig spät erscheint, hinterlasse ich hier ein paar Zeilen über ein wunderschönes Testament eines freien Sozialisationsspiels außerhalb des bürgerlichen Dreiecks (Vater/Mutter/Kind) und innerhalb einer chaosmotischen Ordnung.

    In Form einer Sammlung von Anekdoten und spaßigen kurzen Erzählungen berichtet die Schriftstellerin Emmanuelle Guattari über ihre unbefangene schöne Kindheit im Schloss der Verrückten, La Borde. Die Autorin beschreibt mit harmlosen Geschichten die magische Welt, in der sie ihre Kindheit verbrachte.

    Ein riesiger Park umgab das Schloss, das die Verrückten bewohnten. Dort liefen die Verrückten ohne Zäune herum (S. 25). Am Park, die Teiche, den Tümpel, die Tiere: Beide, die Verrückten und die Kinder, teilten denselben Ort, hatten La Borde als ein Zuhause.

    La Borde Klinik, Cour-Cheverny (Tal der Loire, Frankreich)

    Bekanntlich wurde die experimentelle psychiatrische Klinik La Borde im Dorf Cour-Cheverny von dem französischen Psychiater Jean Oury gegründet. Das Projekt vertrat den Standpunkt, Wahnsinn nicht als von normativen Strukturen bestimmte Pathologie zu sehen, sondern die Kranken auf der Basis von menschlichen Beziehungen und kollektiver Sozialisation zu behandeln. Ein auf Kollektivität und Gemeinschaft basierendes Konzept sollte der traditionellen Ausschließung psychisch Kranker entgegenstehen. Ab Mitte der 1950er Jahre arbeitete und lebte der Philosoph und Psychoanalytiker Félix Guattari zusammen mit seinen Kindern, unter ihnen Emanuelle, im Schloss La Borde. Félix Guattari akzeptierte mit vollem Recht den Kompromiss eines kollektiven und explorativen Raumes für die Erforschung von Zusammenfügungen von Kräften und Potenzialitäten des Kollektiven (Chaosmose). Das ödipale Dreiecksmodell, bestehend aus Vater/Mutter/Kind, konstituiert die mikrosozialen Zellen und Muster der normativen Errichtung moderner Gesellschaften und stellt sich der Kollektivierung von subjektiven Kräften des explorativen Raums von La Borde diametral entgegen.

    La Borde war eine Unterkunft, welche die Regeln der Internierung Geistesgestörter umkehrte. Hier fällt die gesperrte Mauer von psychiatrischen Anstalten herunter, sodass die psychosomatischen Anomalien kaum der Kategorie des Pathologischen zuzuordnen waren. Vielmehr öffneten sie sich hier auf die wundervolle Lichtung der freien Wiese, welche das Schloss umgab.

    La Borde, le droit à la folie

    Zum Irrenhaus führt kein Irrweg.

    Fischen, in den Hühnerstall hineingehen, den Schweinen Essen bringen, sich auf den Weg zu einem Theaterstück der Verrückten machen, ein Land voller Entdeckungen und Erfindungen, das den Blick des Mädchens anzog, auf deren Pfaden das Mädchen von La Borde wanderte.

    Zum Schloss des Wunders führt kein Irrweg, doch die Wege nach Hause sind jene der Irren. So, wie das Land des Wunderbaren von Alice von phantastischen Wesen bewohnt war, war das von Verrückten bewohnte Land, im Gegensatz zum Land Alices, ihr Schloss, nicht mehr das Haus, in das man zurück soll. Die Verblendung und Realitätsverleugnung, die Alices Wunderland aufzeigt, sind bei den Kindern von La Borde nicht vorhanden, es gab dort weder Widersprüche noch Gedankenlosigkeit des Phantastischen. In dieser Hinsicht schlägt die poetische Perspektive in Emmanuelles Alltagsbeschreibung ihres Zuhauses jede epische Erzählung, von der Odyssee bis zu Alice im Wunderland, wo die Wege nach Hause, die Rückkehr nach Hause nur über Irr- und Umwege zu bewandern sind.

    Narrenturm (Wien). Erste psychiatrische Klinik Kontinentaleuropas 1784.

    Soll das Haus bzw. Heim eines des Irren sein, dann sind die Wege dorthin kaum welche, die bewältigt werden sollen. Kein bösartiger Geist steht entgegen, keine Hindernisse versperren die Wege nach Hause, keine heroische Operation soll die Wege nach Hause beanspruchen, keine Hemmung gegen bezaubernde Begegnungen. Es handelt sich um die Spielerei des Lebens im Freien. Alles war so wahrhaftig wie die Welt, in der sie aufwuchs. Doch als sie in den Kindergarten geschickt wurde, hatte sie erkannt, dass das magische Schloss, im dem sie aufwuchs, eine Klinik war; oder dass die Klinik, das Zusammenleben mit den Verrückten, der magische und phantastische Ort war, an dem sie in ihrer Kindheit heranwuchs.

    Die ewig jungen Gesichter

    Sie ähneln sich in der Jungenhaftigkeit ihrer Gesichter. Beide scheinen jung zu sein und in der Welt des Wunders ist der Schein, die Wahrheit. Die Verrückten sollen junge Gesichter haben, erzählt der Vater Emmanuelle („mein Vater pflegte zu sagen: Großer Wahnsinn hält jung“ (S. 109).

    Junge Gesichter hemmen vielleicht ihre Ängste nicht, im Gegensatz zu dem, was Alice im Wunderland lernt, das Land des Wahnsinns und die Verfügung des Phantastischen zu fürchten. Durch und mit Angst lernt Alice, Gefahren zu sehen, ihren Wahnsinn zu begraben und den Weg nach Hause zu finden.

    Emmanuelle hat keine Angst vor Verrückten. „Hatten wir Angst vor den Verrückten? Nicht vor allem und auf jeden Fall nicht mehr als vor normalen Menschen“ (S. 109). Die Kinder von La Borde begeben sich aber auf den Weg des Wunders ohne jene Beklemmung: „Ich entdeckte die Oper, als ich die Treppe der Klinik hinunterkam, wo im Grand Salon eine Arie gesungen wurde: „Mein Herz erschließet sich in der Glut deiner Liebe“ (S. 110).

    Emmanuelle erzählt uns die Sprache der Phantasie in der Wirklichkeit eines Kindes. Man spricht von der Einbildungskraft, diesem geistigen Trieb, der das Sehen dessen, was man nicht sieht, ermöglicht; oder das zu bilden, was noch nicht existiert; oder aus der Kraft eine imaginäre Realität zu schaffen.

    Den Kindern ist die Verzerrung der Realität und Phantasie gestattet. Genauso wie der Blick der Verrückten, die sich etwas einbilden. Ihnen ist allerdings der Einbildungssinn nicht zugelassen, sondern der Sinn des Wahns.

    Vielleicht aus dem Grund, dass sie erwachsen sind. Wenn beim Erwachsenen die Einbildung die Grenze der Phantasie überschreitet, sind sie krank, geistesgestört oder verrückt. Beide aber, Wahnsinnige und Kinder, besitzen junge Gesichter: „Würden wir also am Ende wie die Verrückten reden, wenn wir erwachsen wären?“ (S. 110), fragt sich Emmanuelle.

  • Die Wahrheit der Lüge oder die Lüge der Wahrheit

    Die Wahrheit der Lüge oder die Lüge der Wahrheit

    Jean-Luc Nancy: Die Wahrheit de Lüge, Wien: Passage, 2023.

    Wenn das Wort der Wahrheit auf Kinder und Erwachsene gerichtet wird und wenn sie die Bejahung der Lüge verspricht, verdient diese Rede eine Besprechung. Der schon vor beinahe zwei Jahren verstorbene französische Philosoph Jean-Luc Nancy hielt den 2021 posthum veröffentlichten Vortrag „La verité du mesonger“.

    2023 erschien eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Die Wahrheit der Lüge“. Der Vortrag und die ihm folgende Fragerunde handeln wesentlich von der Legitimität der Lüge. Das Gelingen eines solchen Versuchs beginnt mit einer bloßen offenbaren Argumentation, nämlich, dass bei Kindern die Lüge wahrhaftig zu gerecht ist, denn ihr Welthorizont ist nicht paradoxfrei, worin Lügen und Wahrheiten zusammenleben: „Für Kinder ist die Lüge etwas Normales, weil sie sich den Erwachsenen nicht gänzlich anvertrauen können: Denn sie spüren sehr deutlich, dass die Erwachsenen zum Teil in einer anderen Welt leben. (…) Kinder sind noch nicht ganz in der Gesellschaft“ (S. 13). Man kann nicht der Lüge ihre Wahrheit entziehen oder die Wahrheit der Lüge verneinen, sofern der Wahrheit misstraut wird.

    Kinder sind die Verräter der Wahrheit der Wahrheit par excellence, weil ihre Welt nach anderen Regeln aufgebaut ist als jene, die die Gesellschaft ordnen. Mit der Wahrheit des Wunderhorizonts von Kindern, besiedelt mit phantastischen Erfindungen. macht Jean-Luc Nancy aus seinem dekonstruktivistischen Gestus, nämlich dem Misstrauen gegenüber der Wahrheit, einen Appell für ein soziales Zusammenleben in mehrwertigen Welten. Wie eine pluralistische Welt überhaupt zustande kommen kann, ist das Thema seines letzten großes Buches (Von einer Gemeinschaft, die sich nicht verwirklicht. Übers. Esther von der Osten. Turia + Kant, Wien 2018). Das Misstrauen gegen eine identitätslogische absolute Wahrheit führt nicht in die Falle des Relativismus, sondern öffnet die Wahrheit für ihre paradoxe Bestimmung: Die Wahrheit der Lüge ist so legitim wie die Lüge der Wahrheit. Die Annahme einer solchen Paradoxie bedeutet nicht, dass alle Stellungnahmen vertretbar sind, wie der Relativismus meint, sondern dass es so viele Welten wie Wahrheiten gibt.

    Der Relativismus wäre dann eine Stellungnahme, welche die Trivialität von Wahrheiten verspricht, nicht aber die Wahrheit der Lüge entbirgt. Der Relativismus enthüllt aber nicht die Lüge der Wahrheit, auch wenn sie in jeweilige einzelne Realitäten zerfällt und sie rechtfertigt. Dazu führt Nancy aus dass sämtliche -ismen, nämlich Weltanschauungen, auf Wahrheiten und wahren Ideen beruhen. Und heute spricht die Wahrheit der Ideengebäude von ihrer Lüge: „Heute sind Ideologien vielleicht eine Form von Lüge, die nicht unbedingt willentlich, nicht als Lüge beabsichtigt ist, sondern die darin besteht, auf große, umfassende Zusammenhänge zu verweisen, die aufgeblasen werden, um sich auf eine große Idee zu berufen“ (S. 42).

    Ist aber nicht die Lüge der Wahrheit der Wahrheit der Lüge entsprechend?

    Aus der Sicht eines Dekonstruktivisten bewahrt der Autor die Skepsis einer identitätslogischen Wahrheit, sowohl angesichts ihrer Verneinung als auch ihrer Bejahung. Nancy will und führt keinen philosophischen Diskurs über die die Philosophie stiftende Frage, die Wahrheit der Wahrheit. Obwohl er zur Tradition der Dekonstruktion und Phänomenologie gehört und die Wahrheit mit den Zeichen ihrer Abwesenheit ein Hauptthema dieser Tradition war oder zumindenst die Koryphäen dieser Tradition es zum Thema der Philosophie gemacht hatten, wendet er diese Vorträge von grundlegenden Auseinandersetzungen mit der Ontologie und Metaphysik der Geschichte der Philosophie ab. Ohne sich hier in postmoderne Diskussionen verwickeln zu wollen, nimmt er den kürzesten Weg, nämlich die Wahrheit der Lüge, um die Lüge der Wahrheit auf den Tisch zu legen, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene.

    Ist die Lüge das Gegenteil von Wahrheit? Eine schwierige Frage für einen Dekonstruktivisten, „denn ist die Lüge kompliziert“ (S. 15), sagt er; für jemand, der die Absolutheit der Wahrheit leugnet. Das Ziel, eine Wahrheit der Lüge zu vertreten, besteht nicht darin, gegen die Wahrheit der Wahrheit wahrhaftig zu wirken. Eher besteht hier die Absicht, die geistige Komponente der Lüge aufzuzeigen und deren performative Legitimität darzustellen: Alle Menschen lügen, weil die Lüge eine Sache der Sprache ist. Lügen heißt, nicht die Wahrheit zu sagen (S. 15).

    Die Lüge ist dem Geist innerlich, sie gehört zum Geist. Der Autor spielt mit der etymologischen Herkunft des französischen Wortes mesonger, um es zu veranschaulichen. Mesonger stammt vom lateinischen mentiri, das wiederum von mens abgeleitet ist, dies heißt Geist. Tiere können nicht lügen, vermutlich weil sie eine Seele, jedoch keinen Geist haben, „weil sie nicht sprechen“ (S. 50). Sie können sich tarnen gegen die Bedrohung einer Gefahr oder zur Begattung scheinen sie anders, weil sie zugunsten der einen oder der anderen die andere täuschen wollen, doch sie lügen nicht. Ist aber die Tarnung des Menschen eine Lüge? Die strategische Täuschung ist eine Art von Lüge, meint Nancy, mit der Anerkennung und der Bezichtigung.

    Wieso lügt man dann? Um über die Schatten die Wahrheit sehen zu können. Weil die Lüge ein notwendiger Wert ist, um über die Wahrheit sprechen zu können. Mit anderen Worten sagt Nancy, dass die Lüge dort Sicherheit gibt, wo Gefahr und Bedrohung bestehen. Es mag sein, Kinder lügen deswegen. Es ist eine Mittäterschaft miteinander, wenn sie sich von der Erwachsenenwelt schützen müssen. Ihnen fällt es nicht schwer, es ist eine leichte Aufgabe, vielleicht, weil sie bemerkt haben, dassdie Wahrheit genauso eine Erfindung ist wie die Wahrheit selbst. Deshalb können Kinder am besten den Inhalt dieses Vortrags verstehen: dass die Wahrheit einer Lüge der Lüge der Wahrheit entspricht.

    Folglich ist laut einer Entscheidung der Herausgeber das 2023 erschienene Buch in eine Reihe eingebettet: „Für Kinder und Erwachsene“ in Anlehnung an W. Benjamins großartige Aufgabe, für Kinder und an Kinder gesprochen zu haben (Radiosendungen). Danke Peter Engel für diese wunderschöne Reihe.

  • Wie ein Adler entfaltest du deine Flügel und den Blick in den Himmel richtend fragst du: wieso?

    Wie ein Adler entfaltest du deine Flügel und den Blick in den Himmel richtend fragst du: wieso?

    Am Tag Mariä Himmelfahrt, Christi Mutter, die mitleidende Mutter.

    Mit offenen Armen, wie aufgespannte Flügel und erhobenen Hauptes hebt sie die Brust und blickt in den Himmel. Sich auflehnend fragt sie Gott den Vater: Wieso? Ihr Sohn liegt zu ihren Füßen, tot am Boden. So blickt die Skulptur Pietà von Jorge Oteiza am Fries der Basilika Unserer Lieben Frau von Arantzazu in der baskischen Provinz Gipuzkoa in Spanien.

    Die Pietà gilt als Darstellung der Mater Dolorosa (Schmerzmutter). Sie stellt den Schmerz der Mutter Christi dar, bei der Momentaufnahme der vorletzten Station des Kreuzandacht, als die Leiche Christi auf dem Boden lag. Das Mitleid der Muttergottes hat die Bildhauerkunst im Motiv der Pietà nachgeahmt. Es ist seit dem frühen 14.Jahrhundert gebräuchlich und zählt zu den bekanntesten ikonographischen Darstellungen des Mittelalters.

    Der nicht wieder gutzumachende Schmerz, Christi Verlust, lässt sich sehr gut an der Pietà der Heilig-Kreuz-Kapelle des Wallfahrtsklosters aus dem 14. Jahrhundert veranschaulichen. Die Gottesmutter ist von zahlreichen Pfeilen umgeben, während sie, „unsere Liebe Frau mit den Pfeilen“, den gestorbenen nackten Jesus Christus in ihrem Schoß hält.

    Marmor skulpturierte Plastik Michelangelos in der Capella de la Pietà gilt als das bekannteste Vesperbild. Dieses mitsamt den ihr vorangehenden Darstellungen zeigt die Christus haltende leidende Mutter, ähnlich jener von Rondanini in Mailand.

    Der Bildhauer Jorge Oteiza zeigt aber eine leere Pietà ohne Mantel, fast ohne physiologische Merkmale, zu deren Füßen der Leichnam Christi liegt. Sie hält ihr totes Kind nicht auf ihrem Schoß, sondern es liegt unbedeckt auf dem Boden, während die Mutter mit herzförmigem Gesicht schreiend zum Himmel aufschaut. Sie fragt empört: Welches Schicksal hast du meinem Kind zugedacht? Wieso? Diese gegen die Schuld auf Christus schiebende Frage, diese religiöse Darstellung einer schmähenden Mutter erschüttern das baskische Bistum und den Vatikan in Rom. Die mehr als drei Meter breite und hohe skulpturierte Jungfrau mitsamt den 14 Aposteln lag 12 Jahre wegen eines vatikanischen Verbots in der Gosse.

    1950 wurden die Grundlagen zur Umgestaltung der Basilika von Arantzazu veröffentlicht. Die Architekten Francisco Sáenz de Oiza und Luis Laorga hatten die höchste Punktezahl bekommen und ihnen wurde der Bau der neuen Basilika übertragen. Mit der Einrichtung des Frieses wurde der Künstler Jorge Oteiza beauftragt, mit den Gemälden der Krypta der Maler Nestor Basterretxea, mit der Apsis Carlos Pascual de Lara, mit dem Buntglas Javier Alvarez de Eulate und mit den Toren der Bildhauer Eduardo Chillida.

    Die neue Basilika wurde 1955 gebaut. Eduardo Chillida und Javier Alvarez de Eulate durften ihre Arbeit fortsetzen, obwohl die künstlerischen Arbeiten von Oteiza, Lara und Basterretxea nicht den Vorschriften der kirchlichen Kunst entsprachen. Der Bischof von San Sebastian, Jaime Front Andreuri, schickte die Entwürfe nach Rom: „Diese Päpstliche Kommission, die gemäß den Richtlinien des Heiligen Stuhls über den Anstand in der religiösen/heiligen Kunst wacht, kann die vorgelegten Entwürfe leider nicht genehmigen“. Der Bischof von San Sebastian erteilte ihr die Befugnis zum Verbot, das 1954 erging.

    Die mehr als fünf Tonnen wiegende Pietà sieht so aus, als sie in den Himmel fliegt. Unter der Pietà stehen 14 entleerte Apostel. Sie sind entleert, entkörpert. Die Zahl der Apostel und deren entleerte und entkörperte Figuren widersprechen der herrschenden kirchlichen ikonographischen Darstellung. „Die Apostel, die wie aufgeschnittene heilige Tiere aussehen, sagen uns, dass sie sich selbst entleert haben, weil sie ihr Herz in andere gesteckt haben“, meinte der Künstler Jorge Oteiza. Jeder von ihnen ist drei Meter hoch und wiegt fünf Tonnen. Oteiza selbst nannte die Dynamik der Apostel ein „Friesballett“, seine Technik ist die Hyperbolik, der ausgehöhlte Zylinder. Der Kalkstein erinnert an die umliegenden Berge, die unregelmäßigen Volumina an den Abdruck des Wassers auf dem Fels. Seine Dynamik verbindet sich mit einer symmetrischen Komposition des Werks.

    Die beiden Apostel am Ende der Reihe sind nach vorne gewandt und umhüllen mit dieser Geste das Ganze. Die anderen blicken nach oben zur Mutter, die in den Himmel schaut. Widersprechend lehnt sich der Eifer der Mutter gegen den Himmel auf: Mein Sohn ist nicht schuldig, unsere Kinder sind nicht schuldig.